Ein Sinnbild der Individualisierung, das heute in gewisser Weise zum Programm geworden ist. Zum gelebten Alltag von Milliarden.
Im Meer der Möglichkeiten können wir beliebig und beinahe grenzenlos auswählen und zugreifen. Können ordern und buchen, uns stylen und präsentieren, wie es uns gefällt: 24/7 und an beinahe jedem Ort der Welt. Wir können uns pinkfarbene Jeans bestellen und sie in der nächsten Sekunde gegen lilafarbene Highheels umtauschen. Handyhüllen stehen in Abermillionen Ausführungen zur Verfügung, elektronische Geräte in zahllosen Konfigurationen. Auch Alltagsgegenstände, Statussymbole und Produkte, die schon immer Teil der Selbstpositionierung und des persönlichen Ausdrucks waren, stehen heute in schier endloser Vielfalt und oft genug zum Schnäppchenpreis zur Verfügung. T-Shirts und Turnschuhe massenhaft, Möbel in unbegrenzten Mengen und Designs, Autos in zahllosen Ausführungen, Klassen und Finanzierungsrahmen. Selbst Reisen sind heute zu allen nur erdenklichen Destinationen zu haben, vom All-Inclusive-Urlaub auf Gran Canaria bis zum maßgeschneiderten Erlebnistrip zu den Goldschopfpinguinen der Antarktis. Die Welt der Waren und Angebote ist zum Manifest der Individualisierung geworden. Der Soziologe und Psychologe Harald Welzer fasst das heute existierende Universum der Möglichkeiten so zusammen: »Alles immer, immer alles.«
Die gepriesene Individualisierung aber bringt per definitionem eine tückische Eigenschaft mit sich. Das Wort Individuum nämlich steht für eine Entität, die sich nicht mehr weiter teilen lässt. Der Ursprung stammt aus dem Lateinischen: individere – nicht teilbar. Und so steht eigentlich das Gegenteil der Individualisierung für jene womöglich zu diskutierende Daseinsform, die vielmehr dieses Wort beschreibt. Dividuum: das Teilbare. Das, was wir halbieren, dritteln, vierteln können. Das, was zu Schnittstellen führt und uns in einem Boot mit anderen sitzen lässt. Kurzum: Nicht die Individualisierung steht für die Idee einer Gemeinschaft und Gesellschaft – sondern ihr Antonym.
Wie aber können die Einheiten in der Vielheit funktionieren? Ja, wie ticken die Menschen in der Gesellschaft? Nun, aufs Hier und Heute des digitalen Zeitalters gemünzt, ließe es sich wohl so ausdrücken: Das moderne, vernetzte Wesen bewegt sich nach Belieben durch den Ozean des Überflusses. Es kann wählen zwischen unendlich vielen Angeboten, kann sich das Leben aus einem fast unerschöpflichen Kosmos von Informationen, Meinungen und Botschaften, aus einem Füllhorn ungezählter Träume, Apps und Waren komponieren.
Das Pippi-Langstrumpf-Syndrom 3.0: Wir alle machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Jeder für sich. Jeder allein für sich. Jeder in seiner eigenen kleinen Raumkapsel.
Der Publizist Ulf Poschardt schreibt in seinem Buch Mündig von der »zentralen Subjektverfasstheit«, mit der der Mensch durch die modernen Zeiten taumelt. Durch eine Zeit, »in der alles möglich ist, das Unmögliche kommt und alle auf eine magische Art mit allem überfordert sind«.
Wenn im Zustand dieser heiteren Reizüberflutung allein in Deutschland weit mehr als zehn Millionen Menschen von sich selbst sagen, sie würden sich oft oder dauerhaft »einsam« fühlen – müssten wir dann nicht eher einen anderen Begriff wählen, um das Phänomen zu beschreiben? Ein Wort, das diesen Zustand präziser greift? Das Bild des haltlos auseinanderindividualisierten Menschen, der als ebensolcher am Ende ziemlich allein dasteht?
Oder besser: Vereinzelt.
Ausgerechnet die lieben Handys, ersonnen als ultimative Verbindungsautomaten, sind in diesem Prozess zu alternativlosen Katalysatoren geworden: Zu Vereinzelungsapparaten erster Güte. Und wir alle sind jeden Tag Zeuge davon – meist selbst als emsige Nutzer. Die Menschen laufen mit ihren Smartphones über die Straßen, sitzen und stehen in den U-Bahnen vor ihren Geräten, zücken das Mobiltelefon beim Fußballspiel, schreiben Messages während der Besprechung, wischen im Flugzeug noch kurz vor dem Pushback über die letzten Nachrichten. Und der genervte Blick ist inzwischen sogar beim Abendessen am Familientisch zur unabwendbaren Zutat geworden: »Jetzt leg doch endlich mal das Handy weg, Mensch!«
Denn der Mensch klebt am Handy. Das Handy klebt am Menschen. Längst sind beide zusammengewachsen.
Die Computer, besonders in ihrer omnipräsenten Ausprägung als Smartphones, führen uns das Phänomen der Vereinzelung so radikal vor Augen wie kaum etwas anderes. Allüberall ist es zu beobachten: In den Büros und Restaurants, in Bussen und Bahnen, abends im Restaurant und sogar noch auf Konzerten, wo eigentlich alle gemeinsam den Auftritt genießen wollen. Das Telefon ist stets zur Hand, die Bildschirmzeit zur festen Größe geworden. Vor kurzem habe ich eine Mutter neben ihrem Kinderwagen gesehen, in dem ihr Baby lag. Sie stand auf der Straße und telefonierte, aus dem Kinderwagen schimmerte ein bläuliches Licht. Mutter und Kind im Bann des allmächtigen Schirms – jeder für sich.
Eine befreundete Lehrerin erzählte mir neulich von einer Variante dieser Auseinanderdrift. In der Pause kam ein Schüler zu ihr gelaufen und heulte: »Leon will gar nicht mehr mit mir spielen, er spielt nur noch mit seinem Handy!«
Solche und ähnliche Szenen haben sich längst zu einem Sinnbild der kollektiven Vereinzelung verdichtet. Mit einem Fingerwisch landet jeder in seiner Welt, surft ein jeder durch seine persönlichen Universen, auch wenn er gerade Teil einer Masse ist, Mitglied einer mehr oder minder eng zusammengehörigen Gemeinschaft. Die allgegenwärtigen neuen Technologien machen es möglich: Wir sind im Hier und Jetzt – und doch oft ganz woanders. Sind Teil einer Menge – und doch meist ganz bei uns. Sind im Plural eingebunden – und doch dem Singular verbunden.
»Connectivity« lautet das Schlüsselwort dieser allgegenwärtigen Vernetzung. Und dabei sei zumindest die Frage erlaubt: Sind wir am Ende nicht trotz, sondern vielleicht gerade wegen dieser Verknüpfungsorgien gleichzeitig das, was ja auch das Wort »gemeinsam« bereits in sich birgt: Einsam?
Ein plakatives Beispiel dieser Art der Vereinzelung erlebte ich in einem Internetcafé in Asien. Weit über 20 Kinder und Teenager saßen dichtgedrängt in dem dunklen, heißen Raum, kaum einer älter als zwölf, dreizehn Jahre. Die Jugendlichen saßen Ellenbogen an Ellenbogen, doch ein jeder war fixiert auf seinen Bildschirm, ein jeder versunken in das Computerspiel vor seinen Augen. Auf den Screens schritten Maschinenwesen durch künstliche Welten, während draußen die Palmen der Insel im Wind standen, am Steg die Fischer festmachten und die Erwachsenen und älteren Menschen auf niedrigen Plastikstühlen vor den Garküchen saßen. Doch auch sie und sogar viele der Fischer blickten auf ihre Geräte, denn fast jeder hielt ein Smartphone in der Hand.
Es wirkte grotesk. Der Mensch mitten im tropischen, bunten Gewimmel Asiens – ein jeder davongeflogen in seine eigene Welt.
Und mitten im Gewusel saß der Staat auf zwei Klappstühlen. Zwei Polizisten in Uniform, Rücken an Rücken, ein jeder absorbiert von seinem kleinen Phone, das er in Händen hielt.
Es ist erstaunlich und klingt paradox. Doch trotz nie dagewesener Möglichkeiten der Kommunikation, trotz immer neuer Kanäle des rasenden Austauschs scheint das vermeintliche Miteinander zunehmend zu einem systematischen Auseinander zu führen. Als ob uns im Beliebigen das Verbindende und Verbindliche abhanden kommt – zumindest jene Versionen davon, an die wir uns bisher geklammert haben.
Zu beobachten sind dabei nicht nur altbekannte Bruchstellen, sondern tausend neue Haarrisse, die das Ganze kreuz und quer zerschnippeln. Statt der Zusammenführung, so könnte man den Eindruck gewinnen, lässt sich vielerorts eine Fragmentierung feststellen, statt der Gemeinsamkeit zudem eine voranschreitende Polarisierung. Die in letzter Zeit öfter und vehementer stattfindenden Demonstrationen sind ein weiteres Zeichen. Pegida. Fridays for Future. Märsche gegen Rechts. Die Gelbwesten in Frankreich. Die Separatisten in Spanien. Die Corona-Demos. Oft genug sind es hitzige Kundgebungen, Proteste, die in Ausschreitungen münden. Neu aber ist etwas anderes: Denn vor allem in letzter Zeit führt die Spaltung keineswegs mehr nur durch die weite Gesellschaft, sondern bricht