Es dauerte ein wenig, bis ich verstand. Denn mein Begriff von Einsamkeit war verkürzt, eindimensional. Lange dachte ich auch, Einsamkeit habe nichts mit mir zu tun. Am Ende dauerte es Jahre, bis ich begriff. Bis mir ebenfalls klar wurde, wie einsam auch ich selbst lange gewesen war.
Als mir ein befreundeter britischer Politiker Anfang 2016 davon erzählte, dass man sich in Großbritannien der Aufgabe stellte, politisch gegen Einsamkeit vorzugehen, wurde ich neugierig. Da war ein neues Themenfeld. Es klang nach einer innovativen Agenda, nach progressiven Positionen. Anti-Einsamkeit roch nach Zukunftslust, nach etwas, das den gealterten ideologischen Grabenkämpfen von linken Enteignungsphantasien und neoliberalem Deregulierungswahn etwas Neues entgegenzusetzen hatte. Mario Creatura, ehemals Kommunikationschef der britischen Premierministerin Theresa May und heute selbst Politiker in London, berichtete mir etwa von Senioren, die vor ihren Fernsehern gefesselt allein zu Hause saßen. Von Hunderttausenden alter Menschen, die keinen Besuch mehr von Familie oder Freunden empfingen. Einsamkeit, so speicherte ich es damals ab, würde eng mit der demographischen Entwicklung in Europa zusammenhängen. Und daraus ergab sich folgerichtig auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe, vor allem mit Blick auf die Zukunft. Die Alten litten unter Einsamkeit. Und sie wurden immer einsamer – weil sie immer zahlreicher wurden und immer älter. Das Motto lautete: Wir müssen mehr für sie tun. Müssen sie wieder mehr einbinden, berücksichtigen, uns für sie engagieren. Eine sympathische politische Linie, dachte ich in Zeiten, in denen die Klimabewegung Großelterngenerationen als Umweltsäue und Klimasünder verschrie und sich ein neuer Graben zwischen Alt und Jung aufzutun drohte.
An dieser Vorstellung von Einsamkeit blieb ich erst einmal hängen. An einem wahren Klischee, wenn man so will. Denn natürlich stimmt es, dass die Alten vielerorts vereinsamen. Es lag auf der Hand, und man musste sich nur einmal umschauen, nur einmal die Augen und die Ohren öffnen.
So geschehen während eines Routinebesuchs beim Hausarzt. Noch bevor ich das Wartezimmer betrat, hörte ich mehrere Arzthelferinnen, die sich indiskret beschwerten. Mehrere ältere Patientinnen und Patienten waren frühmorgens unangemeldet in der Praxis erschienen mit plötzlichen Krankheitssymptomen, die in der Nacht aufgetreten seien und deren Behandlung nicht warten könne. Der Terminkalender sei dadurch natürlich durcheinandergeschüttelt. Schaffte es das Praxispersonal dann aber doch, den Patienten ohne Termin nach stundenlangem Plausch aus dem Wartezimmer aufzurufen, winkte dieser zumeist wieder ab. »Ist schon besser geworden, ich glaube, es geht wieder«, verabschiedete sich dieser dann. Genervt standen die Arzthelferinnen beisammen. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vielleicht war da gar keine plötzliche Krankheit, vielleicht war da nur dieses extreme Bedürfnis, sich unerkannt und anonym, aber doch innig und lebhaft im Wartezimmer auszutauschen? War das Wartezimmer in der Hausarztpraxis nicht vielleicht der letzte soziale Ort für sozial Isolierte? Und war dieser Treffpunkt nicht obendrein schambefreit und diskret? Ja, sie waren krank, und ja, sie erhielten ihre Behandlung: Die Einsamen holten sich ihren Austausch. An jenem Nachmittag beim Hausarzt reifte der Gedanke: Unsere Gesellschaft ist einsamer, als sie weiß, und einsamer, als sie zugeben will.
Eine der ersten deutschen Fachkonferenzen zum Thema »Einsamkeit als gesellschaftliche Herausforderung« veranstaltete 2019 die Fliedner Klinik in Berlin. Weil ich in der britischen Anti-Einsamkeitspolitik bereits mitgearbeitet hatte, wies man mir bei der Konferenz einen Bühnenplatz als Expertin zu. Und ich musste staunen, als ich die Hallen betrat. In dem gewaltigen gläsernen Forum direkt am Pariser Platz, zu Füßen des Brandenburger Tors, saßen Hunderte Gäste: Sämtliche Ränge waren besetzt.
Nach zehn Jahren Politik war ich konditioniert, hatte sich mein Blick an ein Meer aus dunklen Anzügen und Kostümen gewöhnt. Die Uniform der politischen Klasse war erstaunlich klar. Doch hier stimmte etwas nicht, da saß keine politische Klasse vor mir. Dieses Publikum trug grüne Baumwollpullover, rosafarbene Blusen und violette Kordhosen. Hier saß jedermann. Hier saß das Volk. Hier saßen Betroffene. Das Thema Einsamkeit traf einen gesellschaftlichen Nerv, berührte mehr Menschen als jene, die der politische Berufsalltag dazu befehligte. Die Ansage aus Großbritannien bestätigte sich: Einsamkeit eignete sich auch als politisches Thema in Deutschland. Und ich rieb mir die Hände: Man müsse doch nur vereinsamte ältere Menschen zusammenführen, Problem erledigt. Was für eine überschaubare Mission.
Doch dann geschah etwas, das mich auf einmal mit einer gänzlich anderen Kategorie der Einsamkeit konfrontierte.
Im selben Jahr, in dem ich mit den Anfängen britischer Einsamkeitspolitik in Berührung kam, verstarb sehr plötzlich meine Mutter. Die zentrale Figur unserer vierköpfigen Familie wurde jäh aus dem Leben gerissen, und nach über 25 Ehejahren stand zunächst einmal mein Vater ziemlich allein da. Die Ehe meiner Eltern war immer eine symbiotische gewesen. Die beiden waren sich selbst genug, Freundschaften hatten sie nie groß gepflegt. Ausflüge zu machen, das bedeutete höchstens gemeinsames Spazierengehen. Eine Ausgehkultur, Bekanntschaften durch Vereinsaktivitäten oder ehrenamtliches Engagement, all so etwas war ihnen völlig fremd. Auch darum brachte der Tod meiner Mutter meinen Vater an einen Punkt des extrem empfundenen Alleinseins. Meine jüngere Schwester, damals 23, war nicht weniger betroffen. Auch sie hatte in meiner Mutter stets die wichtigste Bezugsperson gefunden.
Ich selbst brauchte ebenfalls Zeit und suchte Wege, um mit dem Verlust meiner Mutter umzugehen. Darüber hinaus jedoch – davon war ich überzeugt – sollte der Tod meiner Mutter für mich keinen Initialpunkt eigener Einsamkeit darstellen. Wie auch? Mein Berufsalltag war prall gefüllt. Ich jonglierte zwischen Politik, Wirtschaft und Medien, tagtäglich weilte ich unter den unterschiedlichsten Menschen. Nicht einmal beim Essen saß ich allein, verbrachte kaum einen Abend in der eigenen Wohnung. Dazu trug nicht nur Berlin bei, wo ich wohnte. Auch die mich umgebende Szene war viel zu verführerisch und lebendig, um an so etwas wie Einsamkeit auch nur zu denken. Immerzu wurden neue Bekanntschaften geschlossen. Das Kennenlernen anderer Menschen war für mich Alltagsroutine. Und wie leicht schien das heute zu gehen? Man traf jemanden, tippte dessen Nummer ins Telefonbuch oder Profilnamen ins soziale Netzwerk, fertig. Auch stand ich zunehmend in der Öffentlichkeit. Ich saß in Podiumsdiskussionen, betrat Bühnen und trainierte regelrecht, vor fremden Menschen fließend sprechen zu können. Am Bahnsteig unterhielt ich mich selbstbewusst mit den Menschen, ging offen und souverän auf Fremde zu. Ich war durch und durch Menschenfreund.
Das Abziehbild eines sozialen Wesens.
Parallel aber geschah noch etwas anderes. Und zwar mehr oder weniger unbemerkt, überdeckt vom quirligen Alltag, überblendet von den schnellen Zeiten. Ich brach mit alten Freunden, beendete eine Liebesbeziehung nach der anderen, vermied in weiten Teilen sogar den Kontakt zu Vater und Schwester. Alles, was mich an den Schmerz erinnerte, an die Verlusterfahrung durch den Tod meiner Mutter, spaltete ich vehement von mir ab. Und dieses innere Rückzugsmanöver verschärfte sich noch, als ich mich bald auch noch von langjährigen Mentoren und anderen vertrauten Begleitern verabschieden musste. Meine Großeltern starben. Der Aktivist und Mitbegründer von Cap Anamur, Rupert Neudeck, den ich gut kannte und mit dem ich viel Zeit verbracht hatte, starb. Der Politiker Peter Hintze, mein Chef, auch er starb. Ein Jahr lang wurde ich von Todeserfahrungen verfolgt.
Erst heute verstehe ich, was damals geschah. Zu was mich diese Erfahrungen trieben. Ich begegnete meinem Schmerz nicht. Ich hörte ihm nicht zu und wollte diese Diana Kinnert nicht fortsetzen. Stattdessen erfand ich mich als neue Person. In einer Euphorie von Triumphalismus stürzte ich mich in die Arbeit, züchtete mir einen Freundeskreis heran, dem ich mein dauerhaftes Muntersein als Charakter verkaufte, sabotierte intimere Beziehungen, in denen mich ein liebendes Gegenüber aufrichtig erkannte und behutsam den Schleier heben wollte. Ich wurde gemein, hinterließ verbrannte Erde. Suchte nach Lärm und Ablenkung, war richtig süchtig danach. Und dabei boykottierte ich alle Ruhe und Intimität. Erstickte die Wiege des Eigenen, den Ort der reflexiven Begegnung. Die tiefe Einsamkeit, die mich in diesem Prozedere der Selbstignoranz überfiel, war allerdings sehr gut getarnt. Denn meine Einsamkeit war keine, bei der ich die Anwesenheit anderer vermisste. Meine Einsamkeit war eine, bei der ich mich selbst vermisste.
Ich war eine lange Zeit einfach