Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898019088
Скачать книгу
recht. Wegen der Möbel schick ich dir meinen Mann vorbei. Noch mal zum Unterricht. Sicher könntest du nur abends, morgens bist du ja selbst in der Schule. Ein-, zweimal die Woche würde auch schon reichen für den Anfang.«

      »Bärbel …«

      »Denk darüber nach, ich bitte dich!«

      Er wollte nicht darüber nachdenken, brachte eine Absage aber jetzt nicht über die Lippen, weil er Bärbels Engagement honorierte. Ohne Menschen wie sie funktionierte die Welt eben nicht. Ihm hatte sie früher in Mathe geholfen, da war sie unschlagbar gewesen. Er wollte jetzt nicht so unfreundlich sein und ihr eine Absage erteilen, weshalb er sie vertröstete. »Ich denke darüber nach.« Zu seiner Erleichterung erhob sich Bärbel daraufhin und ging zur Haustür.

      »Ich komm dann wieder vorbei. Und den Achim schick ich dir auch.«

      »Achim?«

      »Meinen Mann. Wegen der Möbel.«

      »Gib mir besser deine Telefonnummer, ich weiß nicht, wann ich da bin.« Er wollte nicht überrascht werden.

      »Martin, wir leben hier auf dem Dorf. Ich suche die Leute lieber gleich auf, anstatt zu telefonieren. Ist doch viel persönlicher, findest du nicht?«

      Persönlich? Martin hatte hierzu seine eigene Meinung.

      »Auf Wiedersehen«, sagte er und schloss die Tür hinter Bärbel. In den letzten Tagen hatte so oft jemand etwas von ihm gewollt, keine Spur von ruhigem Landleben. Er fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, hier einzuziehen. Es ging zu wie im Taubenschlag. Kurz schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass es von Vorteil war, die Stadtwohnung noch nicht schriftlich gekündigt zu haben, und es noch drei Tage bis zum geplanten Umzug dauern würde. Bärbel verhielt sich, als läge ihre gemeinsame Grundschulzeit erst ein paar Tage hinter ihnen. Man konnte doch nicht einfach so viele Jahre übergehen. Aber immerhin tat sich die Gelegenheit auf, sehr viel schneller als gedacht, Großmutters Möbel loszuwerden und damit auch noch einen guten Zweck zu erfüllen. Und im gleichen Atemzug würde er Bärbel beibringen, dass es für ihn nicht infrage kam, Geflüchtete zu unterrichten. Mit dem Zeitmangel würde er sich herausreden, den ein Umzug mit sich brachte. Früher oder später würde sie verstehen. Und dann würde Ruhe einkehren. Endlich.

      Martin ging durch alle Zimmer des Hauses, um zu schauen, welche Möbel er behalten wollte. Wahrscheinlich lief es darauf hinaus, dass er die Küche behalten würde, auch wenn sie schon sehr alt war, außerdem den Lesesessel seiner Mutter und den Schreibtisch. Das alles waren Einrichtungsgegenstände, denen seine Mutter Leben eingehaucht hatte. Er ging in sein ehemaliges Kinderzimmer, öffnete den Kleiderschrank, um nachzuschauen, ob er Frau May, die vielleicht nachher käme, nicht noch das ein oder andere Stück mitgeben konnte. Seinem Geschmack entsprachen die vielen Winterjacken, Mäntel und Strickpullover nicht, aber ihm hatten ja auch die Kleider nicht gefallen, die er auf dem Flohmarkt angeboten hatte. Zumindest nicht für so eine adrette Frau, wie es Frau May war. Dann ging er wieder nach unten, wo ihm im Flur die leere Wodkaflasche auffiel. Da er nicht den Eindruck eines Säufers hinterlassen wollte, nahm er die Flasche und ging damit in die Küche. Nach kurzem Überlegen öffnete er den Abstellraum, um sie dort loszuwerden, da fiel ihm die hässliche, altbackene Kittelschürze seiner Großmütter ins Auge. Die könnte er auch mit der Winterkleidung in die Altkleidersammlung geben, dachte er und nahm sie heraus, da klingelte es. Er ging an die Tür. Diesmal stand tatsächlich Frau May vor ihm. Schuldbewusst lächelte sie ihn an.

      »Ich wollte Ihnen doch etwas geben für die Kleider«, sagte sie und hielt ihm einen Schein hin.

      Martin sah ihr in die Augen. »Müssen Sie doch nicht.« Hatte sie vorhin schon diesen Lippenstift getragen, fragte er sich. Er hatte es gar nicht mehr so eilig, Frau May loszuwerden und war über sich selbst irritiert. »Halten Sie mal bitte?« Er reichte ihr die Kittelschürze, um seinen Geldbeutel aus der Hosentasche zu ziehen.

      »Mein Gott, ist die hässlich!« Frau May lachte laut, besah sich die Schürze genauer und wandte sich wieder an Martin. »Aber meine Oma würde sie lieben.«

      Martin fiel auf, dass sie auch mit den Augen lachte. »Dann schenke ich sie Ihnen«, sagte er und musste grinsen.

      »Vielen Dank. Das ist zu nett.«

      »Ich hätte noch ein paar Kleider«, sagte er.

      »Schaue ich mir gerne an.«

      Frau May trat in den Flur, Martin nahm ihr kurzerhand die Kittelschürze wieder ab und hängte sie über das Treppengeländer. Sie fiel herunter, etwas steckte wohl in der Tasche, Martin wollte nachsehen, aber Frau May stand schon vor der Treppe, und er bat sie nach oben. Die Kleidungsstücke wollte sie nicht, weil sie ein Mottenloch entdeckt hatte und nicht Gefahr laufen wollte, ihrer Großmutter die Viecher ins Haus zu holen.

      »Wohin geht es denn hier?«, fragte sie und sah interessiert auf die Leiter, die auf den Speicher führte.

      »Auf den Speicher«, sagte Martin und dachte, wohin denn sonst?

      »Ich liebe alles, was alt ist. Wenn Sie außer den Kleidern noch etwas loswerden möchten …«

      »Ausgediente Koffer könnte ich Ihnen auch noch anbieten.«

      »Sind die dort oben? Darf ich?«

      »Ja, bitte.«

      Frau May stieg nach oben.

      »Geht es?«, fragte Martin. Die Stufen knarzten. Er fand es waghalsig, wie Frau May in Sandalen die Leiter erklomm. Er befürchtete, sie könne jeden Moment abrutschen. Als sie den ersten Blick in den Raum erhaschte, stieß sie begeistert aus: »Was ist das denn für ein wunderschöner Raum? Hier würde ich mir ein Zimmer einrichten, wenn das mein Haus wäre. Man müsste nur ein paar gescheite Dachfenster einbauen.«

      Martin sah auf ihre Beine. In den Sandalen steckten wohlgeformte Waden. Gerade, als er sich fragte, ob ihre Oberschenkel ebenso fest waren, stieg sie ganz hinauf und entzog sich damit seinen weiteren Blicken. Er fragte sich, wie lange es her war, dass er einer Frau unter den Rock gesehen hatte. Dafür schämte er sich und stieg nun ebenfalls die Leiter empor.

      »Alles unbrauchbares Zeug«, sagte er, als er oben angekommen war.

      »Aber nein! Sehen Sie doch nur den Puppenwagen. Mein Gott, ist der schön. Das wäre was für meine Nichte, sie wird bald sechs. Wo findet man denn heute noch so etwas Schönes? Manchmal denke ich, früher, als die Menschen weniger hatten, waren sie viel kreativer. Allein dieser geblümte Bezug wirkt so liebevoll. Was wollen Sie dafür?«

      »Ich weiß nicht«, sagte Martin. Er vermutete, dass es der Puppenwagen seiner Mutter gewesen war und wollte ihn nicht hergeben.

      »Meine Nichte hat erst in ein paar Wochen Geburtstag. Sie können es sich ja noch überlegen.« Dann zeigte sie auf die Koffer vor ihr auf dem Fußboden. »Sind das die Koffer, von denen Sie gesprochen haben?«

      Er nickte.

      Frau May machte einen Schritt nach vorn, blieb vor den Koffern stehen, bückte sich und strich über die Oberfläche. »Wo diese Koffer wohl schon überall waren?«

      »Vielleicht im Krieg«, sagte Martin.

      »An was für schreckliche Sachen denken Sie denn gleich?«

      Während Frau May in die Koffer hineinschaute, dachte Martin an seinen Großvater, den er nie kennengelernt hatte. Auch seine Großmutter hatte nie über ihn gesprochen. Martin wusste nur, dass die beiden während des Zweiten Weltkrieges geheiratet hatten.

      Frau May kniete noch immer vor einem der Koffer. »Ich stelle mir vor, hier lagen gebügelte und gefaltete Nachthemden drinnen, eine Schlafhaube, geblümte Kleider und ein Notizbuch, um die schönsten Reiseerlebnisse aufzuzeichnen.« Sie richtete sich auf. »Sie müssen entschuldigen. Wenn ich Koffer sehe, geht meine Fantasie mit mir durch. Du und deine Kofferträume, sagt meine Nichte immer. Also nicht die, für die der Puppenwagen gedacht wäre. Die Älteste meiner mittleren Schwester, die …«

      »Kofferträume«, wiederholte Martin und sagte es mehr zu sich selbst: »Ein schönes Wort.«

      »Sehen