»Ich habe drei Säcke Kleider im Auto, würden Sie sich die einmal ansehen?«
»Immer gerne«, sagte die Verkäuferin.
Noch zweimal freute Martin sich über den Klang des Windspiels, dann wuchtete er die Säcke auf den Tresen, auf den die Verkäuferin deutete.
»Dann zeigen Sie mal.«
Martin öffnete wahllos einen der Säcke und nahm ein paar Stücke heraus. Die Verkäuferin begutachtete sie und fragte, ob der Rest ähnlich sei.
»Ähnlich?«
»Für ältere Damen.«
»Nun ja …«, Martin verstand nicht.
»Es tut mir leid, dafür habe ich keine Verwendung. Bei mir kaufen jüngere Frauen ein. Auf dieser Ware würde ich sitzen bleiben. Wenngleich die Stücke sehr schön und von guter Qualität sind.«
»Keine Chance?«, fragte Martin.
»Da müssen Sie schon selbst einen Secondhandladen eröffnen.«
»Ich überlege es mir«, sagte er zu der Dame und ging so beladen, wie er gekommen war.
Müssen Sie schon selbst waren Worte, die sich eingebrannt hatten in Martins Leben. Wie oft hatte seine Mutter gesagt: »Das musst du schon selbst probieren, Martin.« Wobei probieren austauschbar war. Gültig waren Verben wie lesen, erfahren, tun, rausfinden und viele mehr. Einzig das Wort selbst war unersetzlich.
Bevor er den Kofferraumdeckel schloss, sah er gedankenversunken auf die Säcke und fragte sich, wie es wohl wäre, getragene Kleider überzuziehen? Wie wäre es, eine andere Frau in Großmutters Kleidern zu sehen? Oder einen anderen Mann, einen Transvestiten – veränderte sich das eigene Ich, wenn man getragene Kleider anzog? Wie fühlte es sich an, sich ein anderes Leben überzustülpen? Und weil er jetzt in diesem Denkmeer schwamm, sein Leben zu verändern, betrat er den Secondhandladen erneut.
»Was muss man denn machen, wenn man selbst einen Secondhandladen eröffnen will?«
»Das ist ganz einfach«, sagte die nette Frau.
Auf der Rückbank des Volvos klapperten die Stangen der beiden fahrbaren Kleiderständer, die ihm die Verkäuferin aus dem Secondhandladen für wenige Euros überlassen hatte. Wenigstens hörte er jetzt die Geräusche nicht mehr, die anzeigten, dass der Volvo seinem Ende entgegenfuhr.
Er parkte vor dem Haus seiner Großmutter und schulterte die Kleidersäcke ein weiteres Mal. Frau Wondra kam aus ihrem Haus.
»Hallo Martin, na, was trägst du denn Schweres?«
Sie fasste einen der Säcke an, aus dem ein Stoffstück herausschaute, dann sagte sie: »Ach, das ist doch Irmgards Lieblingskleid. Und das hier«, sie zog einfach etwas aus dem Sack, »das hat sie immer in der Kirche angezogen. Sie hat immer auf ihr Äußeres geachtet.«
Martin sagte nichts, beschleunigte seine Schritte, stolperte über einen Stein und beide Säcke fielen zu Boden. Frau Wondra bückte sich sofort. »Soll ich dir helfen? Wir sind wieder Nachbarn!«
Im Gegensatz zu ihm schien ihren alten Rücken das Bücken nicht zu stören. Martin sah ihr zu, wie sie sich mit einer Leichtigkeit, die er gerade entbehrte, aufrichtete.
»Wenn du meinen Rat willst«, sie roch daran, »lass das alles reinigen, sonst kannst du das nicht verkaufen.«
Frau Wondra wusste, was er vorhatte, ohne dass er ein Wort darüber verloren hatte. Nach Verkaufen war ihm nun grade aber gar nicht, ihm war nach Entspannung, nach Ausruhen zumute.
Als er viel später in den Garten hinaustrat, vernahm er Frau Wondras Schnarchen durch ihr offenes Fenster. Es hatte einen zufriedenen Beiklang und er staunte, wie laut Frauen schnarchen konnten. Dann holte er die Kleiderstangen aus dem Auto und stellte sie ins Wohnzimmer.
Fünftes Kapitel
Kofferträume
Am Abend saß er auf der dunkelgrünen Wohnzimmercouch seiner Großmutter und sah sich um. An der gegenüberliegenden Wand stach ihm das Gemälde der Sonnenblume in dem goldenen Rahmen ins Auge. Er dachte es weg. Er starrte auf die nussbraune Schrankwand linker Hand und dachte auch sie weg. Dann besah er sich den Boden. Schon früher war ihm der Perserteppich ein Dorn im Auge gewesen. Seiner Mutter hatte er auch nicht gefallen. Der wunderschöne Holzfußboden kam nicht zur Geltung.
Der Teppich ist eine Erinnerung an Opa und bleibt liegen.
Mit dem Fuß hob Martin ihn an. Seine Liegezeit hatte Farbunterschiede im Fußboden hinterlassen. Der Teppich war schwer und wollte zurückrollen. Martin stand auf, zog den Couchtisch, der auf dem Teppich stand, beiseite und rollte die Hässlichkeit dann zusammen. Gut so, das gefiel ihm. Gestern noch hatten ihm all die Einrichtungsgegenstände in Erinnerung an die schönen Begebenheiten in diesem Haus ein Gefühl von Heimat vermittelt. Das änderte aber nichts an ihrer Hässlichkeit. Wären seine Eltern nicht so früh gestorben, vielleicht hätten beide tatsächlich ein eigenes Haus gebaut und es nach eigenem Geschmack eingerichtet. Heute war dies der Ort, der die Erinnerung an seine Mutter beherbergte; der Ort, an dem sie ihn zur Welt gebracht hatte. Martin wollte ihn nicht verlassen. Nicht wieder, nicht mehr. Einen schönen Ort würde er daraus machen. Seinen Ort.
Er öffnete die Terrassentür und schaffte als Erstes den Couchtisch nach draußen. Dann hängte er das Bild der Sonnenblume ab und legte es draußen auf den Tisch. Im Wohnzimmerschrank befand sich unsäglicher Kram. Er wusste nicht, was er damit anfangen sollte. Ein altmodisches Essservice, Rentenordner, Rechnungsmappen, Arztbefunde und Fotoalben. Kurzerhand zog er den Stecker der Stehlampe, die in einer Wohnzimmerecke stand, schob sie beiseite und stapelte in dieser Ecke Aktenordner und Fotoalben. Das Essservice trug er in die Küche. Ohne lange zu überlegen, baute er die ganze Schrankwand auseinander und stellte die Einzelteile nach draußen auf die Terrasse. Sein T-Shirt war klatschnass, und ihm war schwindelig vor Anstrengung.
»Ich hab dich gehört«, sagte Frau Wondra, die von ihrer Terrasse aus zu ihm hinübersah. »Es ist gut, dass ich dich wieder hören kann.«
»Ich bereite meinen Einzug vor.«
»Du warst immer hier.« Frau Wondra sah in den Himmel, dann ging sie hinein.
Martin sah nach oben. Einzelne Sterne leuchteten zaghaft. Auch er ging wieder hinein. Der Anblick des Wohnzimmers, das ohne den Schrank viel größer wirkte, gefiel ihm. Er zerrte noch den Perserteppich in den Flur und schob die Couchgarnitur ganz an die Wand, so dass die Schönheit des Eichenfußbodens endlich zur Geltung kam. Es galt, Großmutters in die Jahre gekommenen Fernseher samt Fernsehtisch und den Fernsehsessel und Beistelltisch ebenso loszuwerden wie die Couchgarnitur.
Plötzlich überfiel ihn ein Bärenhunger, und er ging in die Küche, holte zwei Joghurts aus dem Kühlschrank und verzehrte sie in Windeseile. Dann öffnete er die Tafel Nussschokolade, die auf dem Küchentisch lag und aß sie halb auf. Er hätte nicht warten können, bis die Tiefkühlpizza im Ofen gebacken gewesen wäre.
Nachdem sein Hunger fürs Erste gestillt war, ging er noch einmal nach draußen. Er fand, dass alles so stehen bleiben konnte, ging zurück ins Wohnzimmer und sah sich um. Mitten im Raum standen nun die zwei Kleiderständer aus dem Secondhandladen. Er verteilte Großmutters Kleider auf beiden Stangen und setzte sich. Jetzt sah er in den Kleidern nicht mehr die für ihn hässlichen Kostüme seiner Großmutter, sondern Farbtupfer, die hervorragend zum Holzfußboden passten. Sie müssten anständig beleuchtet werden, dachte er mit Blick zur Deckenlampe, die ihr Licht grell in den Raum warf. Vielleicht sollte er als Alternative zum Lehrerberuf tatsächlich seinen eigenen Secondhandladen eröffnen.
Was muss man machen, wenn man selbst einen Secondhandladen eröffnen will?
Das ist ganz einfach.
Einfach. Oftmals hatte er seinen Schülern gesagt, sie sollten die einfachen Formulierungen wählen. Gemeint hatte er, man