Wenn ich hier tatsächlich einziehen will, muss ich trotzdem einiges um- und ausräumen, dachte er, als er einen Küchenschrank nach dem anderen öffnete. Wie viel Geschirr da überall stand. Er nahm einen Stapel Teller heraus. Das Blumenmuster am Tellerrand fand er hässlich, das Gelb war bleich geworden wie eine Sonne im Nebel. Er räumte einen Schrank frei und stellte Großmutters Geschirr auf die Arbeitsplatte. Als er stattdessen Kekse und Schokolade in den Schrank räumen wollte, überlegte er, dass das eher in die Vorratskammer gehörte. Er aß ein paar der Kekse, dann öffnete er die Schiebetür zur Vorratskammer, machte Licht und freute sich, weil die Regale dort Platz boten und die Konserven, die er zur Hand nahm – saure Gurken, Kapern, Apfelmus – das Haltbarkeitsdatum noch nicht überschritten hatten. Verhungern werde ich nicht. In seiner Stadtwohnung hatte es keine Vorratskammer gegeben, und der Inhalt des Kühlschranks dort hatte die letzten Tage darauf hingewiesen, dass er auf der Durchreise war. Damit war nun Schluss.
Ich verkaufe das Haus nicht. Weil ich selbst einziehe, weil ich hier der Hüter des Hauses bin. Es klang so logisch wie eine mathematische Formel.
Nachdem er die Einkäufe verstaut hatte, ging er den nächsten Punkt an. Dass er eigentlich etwas essen wollte, stellte er in die zweite Reihe. Er brauchte einen Platz zum Schlafen. Zielstrebig ging er nach oben in Großmutters Schlafzimmer. Er starrte das Bett an, das schon eine Weile nicht mehr benutzt worden war. Früher war das hier das Schlafzimmer seiner Eltern gewesen. Oft hatte er bei seiner Mutter schlafen dürfen, weil sein Vater häufig weg gewesen war. Kuschelnächte nannte seine Mutter diese Nächte, in denen sie meist sehr lange wach lagen, weil sie Wörter erfanden und einer immer wieder aufstehen musste, um das Büchlein zu holen. Kuschelnachtworte war eine eigene Rubrik. Denn wenn sie im Dunkeln aneinander gekuschelt lagen, fielen ihnen Worte ein, die ihnen bei Tageslicht niemals eingefallen wären. Kieselregen war ein solches Wort. Es war entstanden, als sie die Regentropfen, die an die Scheibe klatschten, beschreiben wollten. Nach dem Tod der Eltern hatte Großmutter das Bett genutzt, auf Mutters Seite geschlafen und Martin verboten, den Raum zu betreten. Ihr eigenes Schlafzimmer hatte sie links liegen gelassen. Wie oft hatte sich Martin mit Rudi im Arm in seinem Kinderzimmer in den Schlaf geweint. Manchmal ging er heimlich nach drüben und roch an der Bettwäsche, doch der Geruch nach seiner Mutter war mit der Zeit von dem der Großmutter vertrieben worden. Er war auch nicht wiedergekommen.
Martin steckte seine Nase in die Bettwäsche, ein Duft nach Zitrone kitzelte ihn, und er musste niesen. Ein frisch gemachtes Bett, obwohl Großmutter nie wieder zurückkommen würde. Martin schluckte. Ob Großmutters Putzfrau das erledigt hatte? Weil man ihr nicht gesagt hatte, dass sie nicht mehr zurückkehren würde? Nie wieder. Ein Donnerschlag an Worten, weil es der Wahrheit entsprach. Wahrheit war von Natur aus laut.
Martin wandte sich vom Bett ab und öffnete den Kleiderschrank. Sogleich sah er seine Großmutter vor sich. In ihren hübschen Kostümen, wie man die Zweiteiler nannte. Kostüm. Martin verstand es als Synonym. Großmutter hatte sich Eleganz übergezogen, um Erlebtes zu kaschieren. Warum hatte sie nie gemeinsam mit ihm geweint? Er wusste, dass auch sie Tränen vergossen hatte. Immer nachts, wenn sie dachte, er schliefe. Einmal, als sie besonders laut schluchzte, war er zu ihr gegangen und hatte ihr über den Arm gestreichelt. Sie hörte sofort auf zu schluchzen. Er dachte, jetzt würde alles gut. Aber dann sagte sie, sie habe nur schlecht geträumt, und er solle machen, dass er in sein Bett zurückkäme. Noch heute wünschte er, es gäbe eine Medizin, die Erinnerungen auslöschte. Zum Teufel damit. Er verscheuchte den Gedanken aus seinem Kopf. Ein Kleidungsstück nach dem anderen nahm er vom Bügel und warf es auf das Bett. Er fühlte die Traurigkeit eines kleinen Jungen, der im größten Schmerz alleingelassen worden war. Mit ihrer Sprachlosigkeit hatte Großmutter ihn in die Verzweiflung getrieben. Täglich hatte er fühlen müssen, dass sie ihn nicht liebte, und ihm die Schuld am Tod seiner Mutter gab. Weil seine Mutter auf sein Betteln eingegangen war, trotz Glatteis zum Schachturnier zu fahren. Weil der Vater gesagt hatte, das sei kein Problem, es sei ja nicht weit. Und dann wurde es die weiteste Reise, die Martin je angetreten hatte. Seine Reise in den Abgrund, in die eisige Einsamkeit. In ein Dahinvegetieren abseits jedes realen Seins. Er hatte die Schachfiguren durchs Zimmer geworfen, fortlaufen wollen, wollte Großmutter mit selbst gepflückten Blumen versöhnen. Hatte alles versucht, was ihm als Kind nur eingefallen war. Er fühlte sich verstoßen, wie im Märchen von Hänsel und Gretel.
Wenn man ihn fragte, was ihn damals gerettet hatte, so gab es nur eine Antwort: Das Büchlein mit Mutters und seinen besonderen Worten. Sie zu lesen hatte seine Mutter ein wenig ins Leben zurückgeholt.
Vielleicht war er deshalb Deutschlehrer geworden, um so seiner Mutter nahe zu sein. Sprache verbindet. Indem er die Leidenschaft seiner Mutter fortsetzte, lebte sie weiter. Sie, die erst nicht hatte fahren wollen bei Glatteis. Am Vater musste er nichts wiedergutmachen. Der hatte im Brustton der Überzeugung gesagt: »Wir fahren. Wenn mein Sohn ein wichtiges Turnier hat, bin ich dabei.« Was natürlich Quatsch war, so selten, wie er zuvor dabei gewesen war. Martin erinnerte sich kaum an ihn. Wieso kam ihm erst jetzt sein Vater in den Sinn? Weil der Vater ohnehin nie eine Rolle gespielt hatte, hatte er ihn aus seinem Denken ausgeklammert. Es erschien fast wie ein dummer Zufall, dass er diese eine Fahrt am Steuer gesessen hatte, wo doch seine Mutter von Anfang an nicht hatte fahren wollen. Als hätte sie geahnt, dass es die letzte Fahrt sein würde. Ja, seinen Vater traf eine gewisse Schuld. Wer weiß – wäre er ein anwesender Vater gewesen, hätte jedem wichtigen Turnier zuvor beigewohnt, hätte er sagen können: »Martin, ich habe alle deine wichtigen Turniere gesehen, da müssen wir nicht bei Glatteis unser Leben riskieren.«
Er stöhnte. Scheinbar hütete das Haus seine Vergangenheit und spuckte sie aus, sobald er es betrat.
Auf dem Bett lag nun ein Haufen gut erhaltener Kostüme. Noch heute sah er seine Großmutter damit im Dorf herumgehen – die Frau, die den Tod der Tochter verkraften und den Enkel großziehen musste.
Ich mochte ihre Großmutter, sie war irgendwie eine Dame von Welt.
Wen interessierte schon die Wahrheit? Seine Wahrheit? Die Kleidungsstücke sahen alle gut aus und rochen, als seien sie gerade aus der Reinigung gekommen. Er wollte sie loswerden, holte einen Müllsack, dachte an Krimis, in denen Leichenteile in Säcke verpackt und im Wasser versenkt wurden.
Weggeschmissen wird nichts.
Ja, Papa.
In der Nähe seiner Stadtwohnung gab es diesen Secondhandladen. Warum nicht, dachte er. Er schulterte die Säcke, was seinen Lendenwirbeln nicht gefiel, ließ sie im Flur noch einmal ab, nahm seine Jacke von der Garderobe und kontrollierte, ob Haus- und Wagenschlüssel in der Tasche waren. Dann schulterte er die Säcke erneut, verließ das Haus und packte sie in den Kofferraum seines Volvos, der auf dem Parkstreifen stand. Er schwitzte. Den Stirnschweiß wischte er mit seinem Jackenärmel weg, stieg ein und fuhr los.
Ob er die Kleider verkaufen konnte? Dann hätten andere noch etwas davon. Und das zu einem günstigen Preis. Vielleicht verschenkte er sie einfach. Sein Vater wäre sicher stolz auf ihn gewesen. Er wollte ein für alle Mal seine Ruhe. Gerade gab der Radiosprecher die Arbeitslosenzahlen durch. Martin wäre nur froh, seine Arbeit endlich los zu sein. Warum merkte er erst jetzt, dass sie so sehr an ihm nagte? Begriff er das erst im Angesicht des Todes? War das zu spät? Er fühlte sich ausgezehrt, nicht einmal der Gedanke an einen alternativen Beruf hob seine Laune. Seine Gedanken galten einzig dem Wann und Wie seines Ausstiegs aus dem Lehrerberuf.
Er bog in die Veilchenstraße ein, wo sich der Secondhandladen befand und fand genau davor einen Parkplatz. Im Schaufenster des Secondhandladens waren Sommerkleider,