Zeit verteilt auf alle Wunden. Birgit Jennerjahn-Hakenes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Birgit Jennerjahn-Hakenes
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783898019088
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das sofort mit und den Rest …« – Sie machte wieder eine Pause und sah Martin an, als erwarte sie etwas, er wusste nur nicht, was – »… würde ich später bei Ihnen abholen. Ich bin nämlich nur mit dem Rad unterwegs.«

      Eigentlich wollte er keinen Besuch.

      »Wo und wann kann ich die Kleider denn holen?«

      »Meisenweg 7, das ist …«

      »Ach so, klar, in Frau Vollmers Haus. Ich weiß, wo das ist. Sagen wir, in einer Stunde?«

      »Gerne«, sagte Martin und sah der Frau hinterher.

      Gerne. War er von allen guten Geistern verlassen? Als er sich durch die Masse zu seinem Auto drängte, war er dennoch erleichtert, dass er die Sachen so schnell losgeworden war. Er fragte sich nur, was so eine zierliche, adrette Frau mit diesen Kleidungsstücken wollte, die ihr ganz bestimmt zu groß waren.

      Kurzentschlossen fuhr Martin direkt bis an die Haustür seines neuen Domizils, stieg aus dem Auto, öffnete den Kofferraum, holte die Stangen der Kleiderständer heraus, steckte sie zügig zusammen und hing die Kleider auf. So müsste er die Frau aus dem Hospiz nicht reinbitten. Dann fuhr er das Auto auf den Parkplatz und ging zurück zum Haus. Gerade hatte er den Schlüssel ins Haustürschloss gesteckt, da hörte er eine weibliche Stimme rufen: »Herr Wachs, hallo!«

      Er wusste, ohne sich umzudrehen, dass es die schwarzhaarige Frau war. Sie schien ihm keine Pause gönnen zu wollen. Woher kannte sie eigentlich seinen Namen? Seine Großmutter hieß Vollmer.

      »Ich denke, es ist am einfachsten, wir schieben die Ständer zu meinem Auto, dann müssen wir die Kleider nicht tragen und so oft hin und her laufen.«

      Nun nahm jeder einen Ständer und schob ihn über das Pflaster. Die Frau lief viel schneller als Martin, und so kam er in den Genuss, sie von hinten zu betrachten. Für eine Sekunde erlaubte er es sich, den straff sitzenden Jeansstoff über ihrem Hintern wegzudenken. Am Ende des Weges zeigte sie nach links, dort am Straßenrand stand ein weißer Kombi. Martin staunte über die Größe des Autos, die ihm neulich an der Tankstelle gar nicht aufgefallen war. Das passte irgendwie nicht zu dieser doch eher kleinen Frau, bis er im Innern Kindersitze entdeckte. Knackige Figur für eine Mutter, dachte er und fühlte sich ertappt, als die Frau erklärte: »Der Wagen gehört meinem Bruder. Der hat drei Kinder. Seine Frau und er müssen sie ständig in der Gegend herumfahren. Fußball, Handball, Flötenunterricht. Aber ich hatte Glück. Für eine halbe Stunde kann ich den Wagen haben.«

      Martin fragte sich, auf was sie das Glück bezog. Darauf, dass sie keine Kinder hatte, die sie rund um die Uhr von A nach B fahren musste, oder darauf, dass sie den Wagen ausleihen konnte.

      »Helfen Sie mir einladen, Herr Wachs?«, fragte sie und klappte den Kofferraum auf.

      »Gerne, die Dame«, sagte Martin in lakonischem Tonfall.

      »Ach ja. Und entschuldigen Sie, dass ich vergessen habe, mich vorzustellen.« Sie wandte sich zu ihm um und streckte ihm die Hand entgegen »Anouk May.«

      Martin nahm ihre Hand und war überrascht über den starken Druck. »Martin Wachs«, sagte er.

      Sie ließ seine Hand wieder los, sah ihn aber erwartungsvoll an. Martin schwieg und begann, die Kleider von der Stange zu nehmen und im Kofferraum abzulegen. Es wäre wirklich einfacher gewesen, er hätte sie im Auto gelassen, um von Kofferraum zu Kofferraum umzuladen. Sei doch nicht immer so umständlich. Dieser Satz war aus zehn Jahren Ehe mit Maria hängen geblieben wie ein Wäschestück auf einer Leine vor einem verlassenen Haus.

      »Ich arbeite in einer Physiotherapiepraxis. Und was machen Sie so?«, fragte Frau May, während sie und Martin nun im Wechsel den großräumigen Kofferraum befüllten.

      »Lehrer«, fühlte Martin sich gezwungen zu sagen.

      »Ach, wie schön. Was unterrichten Sie denn?«

      »Deutsch und Englisch.«

      »Welche Klassen?«

      »Fünfte bis Zwölfte.«

      »Ach herrje, das wäre nichts für mich. Mir reichen schon die ganzen Nichten und Neffen, ich kann sie bald nicht mehr zählen. Ich hab nämlich drei Geschwister, und die haben alle einen Stall voller Kinder. Alle zusammen ergäben bestimmt eine ganze Fußballmannschaft. Ich bewundere ja Menschen, die anderen etwas beibringen können.«

      Martin fiel ein Kleid auf den Boden, er bückte sich. »Mist«, sagte er.

      »Ich werde die Kleider sowieso erst in die Reinigung geben.«

      »Tut mir leid, das habe ich nicht mehr geschafft.« Martin hoffte, dass die Kleiderübergabe nun bald erledigt sei, denn er war jetzt lange genug unter Menschen gewesen. Er wollte mit sich alleine sein.

      Als alle Kleider verstaut waren, sagte Martin höflich, aber bestimmt: »Auf Wiedersehen«.

      »Ja, wäre schön, wenn wir uns wiedersehen. Jetzt muss ich aber schleunigst die Kleider versorgen und meinem Bruder das Auto zurückbringen.«

      Frau May war eine von diesen Frauen, die ohne Punkt und Komma plapperten. Das war ihm zu anstrengend. Auch wenn ihre Reaktion auf die Nennung seines Berufes nicht das typische Ach, die haben ja nur Ferien gewesen war, reichte es ihm. Jetzt wollte er nur eines. Eine Tasse starken Kaffee, im Sessel sitzen, lesen und nach draußen schauen.

      Schon wenige Minuten später klingelte es. Martin erhob sich vom Küchentisch. Bestimmt war es Frau May, die vergessen hatte, ihm wie angekündigt, etwas für die Kleider zu geben.

      »Hallo, Martin, so schnell sieht man sich wieder.«

      »Bärbel?«, erstaunt sah Martin zu der großen Frau auf.

      »Überrascht?«

      »In der Tat, ich dachte …«

      »Das macht nichts. Ich will dich wirklich nicht lange stören. Darf ich hereinkommen?«, fragte sie.

      Martin wich vor ihrer Körperfülle zurück. Er konnte gar nicht so schnell reagieren, da war sie schon im Wohnzimmer und steuerte die Couch an. Um nicht gänzlich das Gefühl zu haben, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein, sagte Martin: »Setz dich doch.« Dann stand er hilflos vor ihr. Sie wirkte selbst im Sitzen noch wie ein Riese.

      »Ich habe dir auf dem Flohmarkt hinterhergerufen, aber du hast mich wohl nicht gehört«, begann Bärbel. Dann stockte sie und sah sich um. »Sag mal, ziehst du jetzt wirklich hier ein? Das würde mich ja freuen.« Sie machte eine Pause, scheinbar hatte sie den Faden verloren. Aber sie nahm ihn wieder auf.

      »Schon komisch, wie man sich fühlt, wenn man seine Klassenkameraden aus der Grundschule wieder trifft. Mir geht es so, dass ich mich gleichzeitig jung und alt fühle.«

      »Was führt dich zu mir?«

      »Du bist Deutschlehrer, oder?«

      »Wieso?«

      »Es geht um Folgendes: Ich engagiere mich hier im Dorf für die Flüchtlinge, und wir suchen händeringend Leute, die diesen armen gestrandeten Menschen Deutsch beibringen. Ich weiß, du müsstest deine Freizeit opfern, aber ich sag dir, diese Menschen sind so dankbar. Ich kann dir Geschichten erzählen … unglaublich, was die alles durchgemacht haben.« Bärbel holte Luft. »Das geht mir ans Herz, und ich kümmere mich um so vieles wie zum Beispiel das Beschaffen von Möbeln für die Flüchtlingsunterkunft hier …«

      Martin nutzte die Gelegenheit. »Braucht eure Organisation noch Möbel?«

      »Ja, aber deswegen bin ich nicht hier.«

      Martin machte eine ausladende Handbewegung, die den Raum erfasste. »Könnt ihr alles haben«, sagte er. »Auch das, was draußen auf der Terrasse steht. Umsonst.«

      »Ach ja?« Bärbel stutzte und sah sich um. »Das ist sehr großzügig von dir, danke schon mal, ich weiß das zu schätzen. Das können wir bestimmt gebrauchen.«

      »Ein Schlafzimmer hätte ich auch noch und …«

      »Gerne Martin, wichtiger