»Leni, das Kleid ist total alt.«
»Steht aber nicht dran, lass mich mal machen … Komm, jetzt helfe ich dir erst mal auf die Beine.«
Obschon Leni sehr behutsam war, bekam Bettina heftige Schmerzen, weil sie einfach noch nicht richtig mit ihrem Handicap umgehen konnte und es immer wieder vergaß. Sie würde sich zusammenreißen müssen, mit dem munteren aus dem Bett hüpfen war es erst mal vorbei.
Aber dann ging es doch, Leni brachte sie ins Badezimmer, vergewisserte sich, dass alles für sie parat lag, dann lief sie ins Schlafzimmer zurück, um die Sachen für Bettina zurechtzulegen.
Hätte sie es bloß allein gemacht, dachte Bettina und nicht zugelassen, Leni was heraussuchen zu lassen.
Dieses getupfte Kleid …
Warum hatte sie das nicht eigentlich schon längst ins Frauenhaus oder die Kleiderkammer gegeben? Sie hatte es seit damals nicht mehr angehabt, und ihr Kleidergeschmack hatte sich mittlerweile total geändert, war lässiger geworden.
Sie würde wie eine Trutsche herumsitzen und auf Thomas warten.
Andererseits, damals war er wirklich hin und weg gewesen. Vielleicht gefiel ihm auch jetzt noch eine lieblichere Version seiner künftigen Ehefrau. Männer standen ja auf so etwas.
Außerdem – sie musste sich darum nicht den Kopf zerbrechen. Das Schöne war nämlich, dass sie Thomas immer gefiel, egal, was sie anhatte. Bei ihrer ersten Begegnung nach all den Jahren war sie sogar dabei gewesen, eine Tür abzuschmirgeln und zu bearbeiten, da war sie vollkommen eingestaubt gewesen, hatte abgerissene Fingernägel und aufgeraute Hände gehabt. Und das alles hatte er nicht einmal bemerkt, sondern nur Augen für sie gehabt.
In Gottes Namen also, sie würde Leni den Gefallen tun und ohne zu murren in diesen Fummel steigen, aber danach, das schwor sie sich insgeheim, würde sie ihn weggeben, nicht nur ihn. Nein, nach der Rückkehr von ihrer Hochzeitsreise würde sie ihren Kleiderschrank so richtig ausmisten. Sie war sich sicher, dass da säckeweise von Bekleidungsstücken zutage kommen würden, die sie seit Ewigkeiten nicht mehr getragen, die sie streckenweise sogar vergessen hatte, so wie dieses Kleid.
Warum fiel es Frauen eigentlich so schwer sich von etwas zu trennen?
Sie hatte eines der Probleme zum Glück nicht wie Linde beispielsweise. Bei der hingen Kleider im Schrank, in die sie niemals mehr hineinpassen würde, weil sie aus denen längst herausgewachsen war und die ehemalige Traumfigur niemals mehr bekommen würde. Aber sie hoffte noch immer darauf, und für diesen Fall wollte sie dann das eine oder andere Bekleidungsstück behalten. Dabei hatte sich die Mode längst geändert, und selbst beim Fall des Falles würde sie es nicht mehr tragen, weil sie nicht mehr die unbeschwerte Zwanzigjährige war. Vom Verstand her wusste Linde das, wussten all die Frauen es, die aus einem solchen Grund ihre Kleider horteten. Zum Glück war sie selbst davon nicht betroffen. Ihre Figur war seit sie zurückdenken konnte unverändert schlank, sie konnte essen und trinken was sie wollte ohne zuzunehmen. Das waren die Gene der Fahrenbachs, die sie offenbar, ebenso wie das äußere Aussehen, geerbt hatte. Grit hatte, im Gegensatz zu ihr, immer darauf achten müssen was sie zu sich nahm, aber als sie noch mit Holger verheiratet gewesen war, hatte sie nicht gehungert. Sie hatte eine sehr schöne Figur gehabt mit Rundungen an den richtigen Stellen. Seit sie mit diesem Robertino zusammen war hungerte sie. Es gab zum Frühstück ein kleines Töpfchen Magerjoghurt, mittags knabberte sie an etwas Rohkost herum, ansonsten ernährte sie sich von gegrillten Gambas, ein paar dürftigen Salatblättchen, weitestgehend ohne Dressing, hier und da gab es mageres Fleisch vom Grill natürlich. Wahrscheinlich war Grit deswegen so oft missmutig und nervenschwach. Grit hatte alle Kleidung entsorgt, sie wollte da nicht mehr hineinpassen, sondern lieber das anziehen, was im Grunde genommen nicht mehr war als eine Kindergröße.
Aus!
Punkt!
Was waren das denn nun schon wieder für Gedankensprünge gewesen, von einem dunkelblauen Tupfenkleid auf ihre Schwester Grit zu kommen?
Bettina beugte sich ein wenig vor, betrachtete sich ausgiebig im Spiegel. Ja, heute sah sie auf jeden Fall besser aus, weil sie auch besser mit ihrem Handicap und ihren Schmerzen umgehen konnte.
Auch wenn der Fuß weh tat, wollte sie versuchen, heute ohne Schmerzmittel auszukommen.
Das Handtuch um sich geschlungen, humpelte sie in ihr Schlafzimmer zurück. Dort hatte Leni bereits alles ausgebreitet, was Bettina anziehen sollte.
Mit Lenis Hilfe zog Bettina sich an und schlüpfte zum Schluss geradezu gottergeben in das von Leni so sehr favorisierte Kleid.
»Toll siehst du aus«, rief Leni voller Entzücken, »und so jung. Ach, dieses Kleid steht dir so gut, du solltest es wirklich öfters anziehen. Häng es weiter vorn in den Schrank, damit du es nicht vergisst.«
Das würde sie natürlich nicht tun, denn diesem Kleid war ein anderes Schicksal auserkoren, doch das musste sie Leni jetzt nicht auf die Nase binden.
Sie sagte gar nichts.
Leni riss eine der Schranktüren auf, an deren Innenseite ein langer schmaler Spiegel angebracht war.
»Du kannst dich hier angucken«, sagte Leni, »dann musst du nicht auf den Flur oder ins Bad gehen … Los, schau hin, wie findest du dich?
Um Leni einen Gefallen zu tun schaute Bettina lustlos in den Spiegel. Aber dann war sie doch einigermaßen überrascht.
Sie sah in diesem lieblichen Kleidchen wirklich nett aus, gar nicht spießig, wie sie gedacht hatte. Vielleicht sollte sie es doch nicht aussondern, sondern hier und da wieder mal anziehen. Doch darüber wollte sie sich jetzt keine Gedanken machen. Leni hatte sie auf jeden Fall glücklich gemacht, die strahlte, als habe sie soeben ein besonders schönes Geschenk erhalten.
Sie würde Toms Reaktion abwarten und dann ihre Entscheidung treffen. Doch im Grunde genommen wusste sie jetzt schon, dass er begeistert sein würde. Er mochte sie in Kleidern, ganz besonders in welchen, die sie weich und fraulich erscheinen ließen.
»Ist okay«, sagte Bettina und wandte sich vom Spiegel ab, »jetzt habe ich Kaffeedurst und Lust auf eines deiner köstlichen Croissants. Mit denen kannst du nämlich jedem französischen Bäcker Konkurrenz machen.«
»So soll es auch sein«, sagte Leni stolz, dann ging sie neben Bettina her, um sie sofort auffangen zu können, falls diese straucheln sollte. Das war aber nicht der Fall, so wie sie sich am Geländer heraufgezogen hatte zog sie sich hinunter und war ganz glücklich darüber zu sehen, dass es mit jedem Schritt besser wurde.
*
Bettina und Leni waren mit dem Frühstück gerade fertig geworden, als es klingelte.
»Dass die Leute nicht kapieren, dass sie nicht sofort hier vorn anklingeln sollen sondern hinten bei uns. So steht es in den Prospekten, so steht es in den Reservierungen, und wenn sie anrufen, weise ich ausdrücklich auch nochmals darauf hin. Manche begreifen es eben nie. Bestimmt sind das diese fünf Männer, die vor ein paar Monaten schon mal hier waren, um zu wandern. Die haben sich für heute früh angesagt, weil sie gleich eine große Wanderung unternehmen wollen. Na, denen werde ich aber den Marsch blasen.«
Bettina lächelte in sich hinein. Das würde Leni natürlich nicht tun, sondern die Herren liebenswürdig begrüßen. Auf sie traf der Spruch – Hunde, die bellen, beißen nicht – voll und ganz zu.«
Aber welch ein Glück, dass Leni da war, um zur Tür gehen zu können. Das Gehen strengte sie selbst doch ganz schön an, sie war froh gewesen, als sie vorhin endlich unten angekommen war.
Leni kam zurück, hielt ein kleines Päckchen in der Hand, auf das sie ein wenig irritiert starrte.
»Es waren nicht die Männer, sondern ein Expressbote, der was für dich abgegeben hat, aus London …, hab’s auf dem Absender gelesen. Hast du dafür eine Erklärung? Ich mein, der Thomas kommt doch heute wieder, warum schickt der dir dann was durch einen Boten, ist doch die reinste Geldverschwendung, Express