Helden und andere Probleme. Jan Philipp Reemtsma. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jan Philipp Reemtsma
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783835345652
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      Jan Philipp Reemtsma

      Helden

      und andere Probleme

       Essays

      für Fanny Esterházy

      Inhalt

       »Mother don’t go!« Der Held, das Ich und das Wir

       Dietrichs mißlungene Brautwerbung. Über Heldengeschichten

       Untergang. Eine Fußnote zu Felix Dahns Ein Kampf um Rom

       »Alles bekommt man ja einmal satt«. Kämpfe, Gleichnisse und Friedensschlüsse in der Ilias

       Gewalt – der blinde Fleck der Moderne

       Gewalt als attraktive Lebensform betrachtet

       Einige Fragezeichen bei Walter Kempowski

       »Was hast du?« Sophokles über den Schmerz

       »Dattelbäume« –? Stefan George läßt seine Aras träumen

       »Gewalt gegen Tiere« – was sagt man, wenn man das sagt?

       Das Scheinproblem »Willensfreiheit«. Ein Plädoyer für das Ende einer überflüssigen Debatte

       Täterstrafrecht und der Anspruch des Opfers auf Beachtung

       Herders Problem mit der Geschichte – und das unsere

       Nachweise

       Anmerkungen

      »Mother don’t go!«

      Der Held, das Ich und das Wir

      Ein berühmtes Foto: John Lennon und Yoko Ono auf einer Demonstration. Lennon reckt den rechten Arm, ballt die Faust, auf dem Kopf hat er eine (modisch stilisierte) Ballonmütze, die Unterzeile könnte aus dem Refrain eines seiner Lieder stammen:

      A working class hero is something to be

      If you want to be a hero just follow me

      So fängt das Lied an:

      As soon as you’re born they make you feel small

      Aber zu John Lennon kommen wir später. – Zunächst zum Klassiker, wenn man über Helden reden will:

      Uns ist in alten maeren wunders viel geseit

      Von helden lobebaeren von großer arebeit

      Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berichtet:

      Von berühmten Helden, großer Mühsal.

      So weit der Beginn des Nibelungenliedes – auf Englisch geht das so:

      In stories of our fathers high marvels we are told:

      Of champions, well approvéd in perils manifold.

      Arno Schmidt benutzte diese englische Übersetzung, um das Nibelungenlied in die Zeit nach dem Ende des Zweiten und vor dem Beginn eines Dritten Weltkrieges zu verlegen – erzählt von einem Dichter auf dem Mond, wohin sich die Restmenschheit nach diesem Dritten Weltkrieg von der verstrahlten Erde geflüchtet hat. Und in dieser Nachdichtung wird Siegfried zu »Alabama-Dillert« (einer Figur aus James Jones’ Some Came Running):

      Aber jetz kam er, unverkennbar ER, DER HELD: Alabama= Dillert![1]

      – der natürlich irgendwann von einem düsteren »H. G. Trunnion« (man hört: HaGeTronje) hinterrücks erschossen wird. Die ganze Mannschaft wird anschließend anläßlich einer verräterischen Einladung in das russisch besetzte Berlin ebendort niedergemacht:

      Und wurden Alle=Alle, ob Folker ob Tankwart, weck= geputzt, ›verheizt‹, Einer nach dem Andern; als Letzter H. G. Trunnion, der ihnen, nicht zu beugen, bis zuletzt sein »Fucking Bolshies!« entgegenschleuderte – : so wurde Dillert endlich gerächt![2]

      Vorgetragen wird diese Version des Nibelungenliedes im Radio der amerikanischen Mondstation (es gibt noch eine russische – der Kalte Krieg geht auf dem Mond lustig weiter). – So wird das Ende von den Zuhörern kommentiert:

      »Von hintn – : so’n Schwein!«; (Dschordsch; erschtickt): »Das kann kein echter Juh=Eß=Boy gewesen sein, dieser= dieser – – «. : »Well Dschordsch – fair war’s natürlich nich. Aber es gab schon bei uns solche Leute: ich hatte ma’n Onkel in Massachusetts …« (Aber er wollte im Augenblick von meiner Verwandtschaft nichts hören: »Und das Alles in Gedichtform, Du: das iss gar nich so einfach!«: »Aber in Börrlinn hat sich der Trunnion dann doch wieder gans vorbildlich benomm’, George – ich weiß nich: mir hat er gefalln! Er hat jene frühere ›Tat‹ doch schließlich auch seinem General zuliebe getan: dergleichen Angeschtellte sind nich häufig, Du: die für’n Scheff n glattn Mord begehn?« (Und das mußte auch George zugebm, daß er, in seinem=Kontor=damals, Keinen von der Sorte gehabt hätte … . .[3]

      Zu den Heldenliedern hat vielleicht immer die Parodie gehört, sie steckt schon in den Nebenfiguren, den nicht ganz so geratenen Helden, Homer hat mit seinem Thersites wenigstens schon der protestierenden Stimme Raum gegeben. Nehmen wir aus der zitierten Parodie des Nibelungenliedes eine erste Definition dessen, was ein Held ist: Helden repräsentieren Tugenden, die Allgemeingültigkeit beanspruchen (»für den Chef einen glatten Mord begehen«), in extrem gesteigerter, also seltener Form (George hatte »in seinem Kontor keinen von der Sorte gehabt«). Das reicht natürlich nicht. In Zettel’s Traum finden wir den Seufzer, es sei doch schade, daß Helden nie in der Wiege erdrosselt würden. Sind ihre Tugenden ein öffentliches Unglück, sind sie mörderischer Art?

      Susan Neiman bestreitet das in Moral Clarity.[4] Sie läßt obige vorläufige Definition für Achill gelten – er repräsentiere die kriegerischen Tugenden der archaisch-griechischen Aristokratie ins Extreme gesteigert (und durchs Extreme gefährdet). Es gebe aber bei Homer auch den Gegenentwurf, nämlich Odysseus. Der repräsentiere jene Tugenden ebenfalls in vorbildlicher Weise, darüber hinaus aber noch viel mehr: Er sei gewissermaßen ein Held des Humanum. In seinen Abenteuern durchlaufe er die Versuchungen und Rettungsmöglichkeiten des Menschen als Natur- wie Kulturwesen, oft problematisch, oft vorbildlich. Odysseus versteht zwar zu töten, ist aber nicht ein Held, weil er tötet. Die Frage, die sich anschließt, bezieht sich auf den literarischen Entwurf der Odyssee. Wenn Odysseus das Humanum repräsentiert, tut er das in einer durchaus post-archaischen, ja modernen Gestalt: als Individuum, nicht mehr als persona, durch die das Allgemeine in gewissermaßen gesteigerter Lautstärke spricht.

      Allerdings bezieht sich das nicht auf den durch das Epos vor unsere Augen gerufenen Odysseus, sondern auf die von uns interpretierte literarische Figur. Wir verstehen ihn symbolisch und als unseren Repräsentanten in gesteigerter Form: Darum fängt uns die Odyssee ein. Das ist unsere moderne Lektüre. Als Held ist er aber nicht entworfen worden,