Zivilisation ist für Jackson zunächst der Zustand einer Gesellschaft, in der Mindeststandards an Humanität gelten, wobei ihm offenbar ein gewisses Maß an Rohheit durchaus mit ihr vereinbar ist, ein Maß, das die Nazis aber eindeutig überschritten hätten.126 Die Zivilisation in diesem Sinn ist Produkt des Fortschritts, ein höheres Stadium gesellschaftlicher Organisation, das aber fragil ist, sodass es auch zurückgeworfen werden kann, wie es die Nazis vorführten. Die Verbrechen der Nazis sind also für Jackson auch und vor allem ein Zivilisationsbruch in diesem Sinn, der zivilisatorischen Fortschritt mit einem Fortschritt hin zu mehr Humanität gleichsetzt. Mit diesem Denken bewegt sich Jackson ganz in der Geschichtsphilosophie des 19. und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Aber nicht nur der Geschichtsphilosophie, sondern auch des modernen Völkerrechts seit dem 19. Jahrhundert, das darauf beruht. Das Völkerrecht der Moderne wurde, anders als das der Renaissance und des Mittelalters, verstanden als „Das moderne Völkerrecht der civilisirten Staten“,127 und Jackson war sich dessen bewusst. Als er im Juni 1945 Präsident Truman einen Zwischenbericht über die Vorarbeiten zum Tribunal gab, berief er sich bei der Aufzählung der geplanten Anklagepunkte auf „die Strafrechtsprinzipien, die generell in zivilisierten Staaten gelten“ und zitierte die berühmte „Martens-Klausel“, die 1899 auf der Haager Friedenskonferenz formuliert worden war und bestimmte, dass – in Jacksons eigenen Worten – „die Prinzipien des Völkerrechts, die sich aus den zwischen zivilisierten Völkern etablierten Gebräuchen, den Gesetzen der Menschlichkeit und den Forderungen des Gewissens“ herleiten, auch im Krieg für alle Menschen gelten.128
Der Begriff der Zivilisation hatte also auch rechtliche Bedeutung. Darauf bezog sich seine Bemerkung, dass „Brauch der Zivilisation und Abkommen, denen Deutschland beigetreten war, […] einen bestimmten Schutz für die Zivilbevölkerung [vorsahen]“. Und deshalb kann er seine Rede mit der Behauptung enden: „Die wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts ist die Zivilisation. Sie ist noch unvollkommen und ringt in allen unseren Ländern.“129 Es ist ein doppelter Zivilisationsbruch, den er den Nazis vorwirft: Sie brachen den Konsens des Völkerrechts der zivilisierten Staaten. Und sie stellten sich damit außerhalb der Gemeinschaft der zivilisierten Völker, sprangen zurück in die Stufe der Barbarei, wie de Menthon es später aufgriff.130
Angesichts der Nazi-Verbrechen klang das überzeugend. Ganz besonders, als Jackson seinen vielleicht berühmtesten Satz in den Raum stellte:
„Wir dürfen niemals vergessen, daß nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“
Dass dieses Versprechen an die Zukunft nicht eingehalten wurde, ist vor allem seit der Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ohne die USA oft genug gesagt worden. Doch es war auch 1945 nicht nur eine Frage des „morgen“. Schon damals war die umstandslose Ineinssetzung des „Wir“ der Ankläger mit der Zivilisation ein ideologisches Konstrukt. Nur wenige Zeitgenossen bemerkten kritisch, dass die Atombomben, die von der US-Luftwaffe genau in den Tagen auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen wurden, als in London das Statut für das IMT beschlossen wurde, dort nicht zur Sprache kamen.131 Auch im IMT wurden sie kaum, allenfalls in marginalen Bemerkungen erwähnt, ganz im Gegensatz zu den Bombardierungen auf die deutschen Städte.
Japan war nicht nur weit weg, es hatte auch, trotz seiner Teilnahme an den Haager Friedenskonferenzen, noch keinen gesicherten Platz im Kreis der „zivilisierten Staaten“.132 Gegenüber Japan erlaubten sich die USA eine extrem rassistisch unterlegte Kriegspropaganda und die völkerrechtswidrige Internierung japanisch-stämmiger US-Bürger.133 Jackson selbst hatte 1944 als Mitglied des Obersten Gerichtshofs über die Klage eines der von der Internierung Betroffenen, die vom Gerichtshof abgewiesen wurde, ein Minderheitenvotum abgegeben, in dem er einerseits die Unrechtmäßigkeit der Internierungen feststellt, andererseits aber den zivilen Gerichten die Kompetenz absprach, darüber zu urteilen.134 Und gegenüber Japan wandten sie auch Mittel an, die sich nach herkömmlicher Sicht des Völkerrechts im Krieg zwischen zivilisierten Staaten verboten. „Wenn man es mit einem Tier zu tun hat, muss man es wie ein Tier behandeln“, rechtfertigte Truman den Abwurf der Atombomben.135
Das „Wir“ Jacksons und der Nürnberger Ankläger meinte schon in Nürnberg mehr als nur die Siegermächte. Es ist in der Idee internationaler Gerichtsbarkeit angelegt, dass sie für die Menschheit schlechthin sprechen will, oder zumindest für den guten, den „zivilisierten“ Teil der Menschheit. Das Jackson’sche „Wir“ hat sich denn auch in die Sprache der internationalen Strafgerichtshöfe und der sie begleitenden Publizistik fortgesetzt und dabei gegenüber Nürnberg noch an Deutlichkeit verloren. Wer da in wessen Namen eigentlich spricht, wird selten gefragt und hinterfragt.136
Die Wiederherstellung der Macht des Rechtes
Die Wiederherstellung der Stärke und Bedeutung des Rechts in der Welt gegen die „internationale Gesetzlosigkeit“137 war das ethische und rechtspolitische Kernanliegen in Jacksons Rede. Das Gespür dafür war es wohl, das dieser Rede ihre große Aufmerksamkeit bei den Zeitgenossen eintrug, die bis heute anhält. Jackson versuchte in Nürnberg zu erklären, warum er sich im Namen der Vereinigten Staaten zu dieser Mission berechtigt und beauftragt sah. Sein „amerikanischer Traum“138 von einer friedlichen internationalen Rechtsordnung beruhte auf einem Boden handfesten legitimen nationalen Eigeninteresses: Nach zwei Weltkriegen könnten und wollten die USA nicht immer wieder eine militärische Eingreiftruppe schicken, erklärte er, sein Land wolle nicht weiter seine Menschen opfern. Und er fügt ein bemerkenswertes Argument hinzu: Ohne eine gesicherte Friedensordnung käme es in seinem Land notwendigerweise zur Ausbildung eines militärisch-industriellen Komplexes, weil alle künftigen Kriege zu Weltkriegen werden könnten und ein neues Maß an Grausamkeit mit sich bringen würden. Diese globale und moderne Perspektive auf den Krieg ist das zentrale Motiv hinter dem universalistischen Pathos und dem legalistischen Ethos, das sich in dem vielzitierten Satz ausdrückt:
„Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, daß dieser Prozeß einmal der Nachwelt als die Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.“139
Wir wissen heute, dass eher die Befürchtungen als die Hoffnungen Jacksons wahr geworden sind. Viele Lippen tranken vom vergifteten Becher. Nicht die Erfüllung des Strebens nach Gerechtigkeit, sondern straflos gebliebene Kriege der USA und der übrigen Mächte, die in Nürnberg zu Gericht saßen, haben die letzten 70 Jahre Weltpolitik geprägt. Die erhoffte Ära der Herrschaft der rechtlichen Vernunft in den internationalen Beziehungen blieb aus. Hat Jackson die Kräfte der „Realpolitik“ unter- und die Macht des Rechts überschätzt? Glaubte er tatsächlich, dass die in Nürnberg zu Gericht sitzenden Mächte sich an dem von ihm gesetzten Maßstab orientieren würden? Was in jedem Fall bleibt: Er hat mit seiner Rede den Grundstein dafür gelegt, dass die Richter dieses wegweisende Urteil fällen konnten:
„Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu strafen, die unter Verletzung von Verträgen und Versicherungen Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben, ist offenbar unrichtig, denn unter solchen Umständen muß der Angreifer wissen, daß er unrecht hat, und weit entfernt davon, daß es nicht ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre es vielmehr ungerecht, wenn man seine Freveltat straffrei ließe [… Die Nazi-Größen] mußten gewußt haben, daß sie allem Völkerrecht zum Trotz handelten, als sie mit vollem Vorbedacht ihre auf Invasion und Angriff gerichteten Absichten ausführten.“140
Und er hat seinen in Nürnberg aufgestellten Maßstab auch nach dem Urteil nicht aufgegeben. In einer Rede im großen Auditorium der Universität von Buffalo, nicht weit von