Während des IMT wurden mehrmals filmische Dokumente als Beweismittel eingebracht. Zur Feststellung der individuellen Schuld der Angeklagten trugen sie wenig bei, sie sollten vor allem die Gesamtsicht der Ankläger auf das verbrecherische System der Nationalsozialisten sichtbar und auch psychologisch wirkungsvoller als die ermüdende Verlesung der Dokumente machen. Die Grundlage dafür bildete Art. 19 des Londoner Statuts, der ausdrücklich bestimmte, dass das Gericht nicht an die üblichen Beweisregeln gebunden sei, sondern „jedes Beweismaterial, das ihm Beweiswert zu haben scheint,“ zulassen konnte. Neben dem bekannten Film “Nazi Concentration Camps”, den Jackson schon am 29. November 1945 vorführen ließ, und dessen Bilder noch heute prägend für die Grausamkeiten des NS-Terrors sind, war dies vor allem der vierstündige Film “The Nazi Plan”, den die amerikanische Anklage am 11. Dezember 1945 präsentierte. Auch diese Filme wurden von einem Team des OSS produziert, das dazu renommierte Regisseure beizog.97
Jackson nahm in seiner Rede auf beide Filme Bezug. Von dem in aller Eile zusammengeschnittenen KZ-Film sagte er voraus, dass er den Zuschauern den Schlaf rauben werde. Aber die „Beweisstücke, die wir vorlegen, werden überwältigend sein“, fuhr er fort, und schloss sich dabei ein: „Ich gehöre zu denen, die während des Krieges die meisten Greuelgeschichten mißtrauisch und mit Zweifel aufgenommen haben.“98
Der Film über den “Nazi Plan” sollte im Gegensatz dazu auch die konkrete Verantwortlichkeit einzelner Angeklagter untermauern. Dank ihrer Eitelkeit hätten sich die Angeklagten gerne selbst ins Bild gesetzt, erklärte Jackson. „Wir werden Ihnen ihre eigenen Filme zeigen. Sie werden ihr eigenes Gehaben beobachten und ihre eigene Stimme hören, wenn die Angeklagten Ihnen von der Leinwand her noch einmal einige Ereignisse aus dem Verlauf der Verschwörung vorführen werden.“ Nach den Eindrücken des Gefängnispsychologen waren die Angeklagten von sich selbst bei der Vorführung von “The Nazi Plan” begeistert.99 Doch bei diesem Film ging es weniger um den psychologischen Effekt als um die visuelle Untermauerung der Verschwörungsanklage. Tatsächlich folgt der Film in seinem Aufbau, den der Hilfsankläger James Donovan (nicht zu verwechseln mit dem OSS-Chef William Donovan, der bereits abgereist war) vor der Vorführung erläuterte,100 in etwa der Gliederung des langen Dokuments von Marcuse mit dem fast identischen Titel. Ob Marcuses Text dabei direkt das Drehbuch des Films beeinflusste, ist bisher nicht dokumentiert, im Vor- und Abspann gibt es keinen Hinweis. Da diese Texte der R&A-Abteilung aber direkt mit Blick auf die Prozessvorbereitung geschrieben wurden, liegt es nahe, dass sich die Autoren, darunter Budd Schulberg, an Marcuses Gliederung orientierten, auch wenn die Struktur des Films natürlich wesentlich von dem verfügbaren Filmmaterial abhing. Wie Budd Schulbergs Nichte Sandra berichtet, wurde der Film am Ende “Hand in Hand” von den Regisseuren und dem Anklägerteam zusammengestellt.101 Jedenfalls entsprach er in mehrerer Hinsicht Jacksons Prozessstrategie: Er ließ die Nazis für sich selbst sprechen, selbst auf das erwähnte Risiko hin, dass sie sich daran ergötzten, und verzichtete auf Kommentar. Er erzählte die Geschichte des Nationalsozialismus als Geschichte einer großen Verschwörung, eben des Nazi Plans, und er führte in Gestalt von Roland Freisler das Bild eines Richters vor, gegenüber dem sich das Nürnberger Gericht als vollkommenes Gegenbild verstand und gesehen werden wollte.
Der Film macht noch ein Weiteres deutlich: Wenn Jackson ihn ausdrücklich einsetzt, um die Verschwörer bei ihren eigenen verschwörerischen Taten zu „zeigen“, wird klar, dass der Begriff der “Conspiracy” in der deutschen Übersetzung als „Verschwörung“ zu semantischen Missverständnissen führen musste, die die Plausibilität dieses Anklagepunkts weiter minderten. Denn an dieser Verschwörung war ja offenbar nichts Heimliches, sie fand vor Aller Augen statt. Insofern war die Rede vom “Plan” oder “Nazi Master Plan” zweifellos treffender für das, was Jackson im Sinn hatte und was mit dem juristischen Begriff der Conspiracy im Kern gemeint ist.
Die Opfer der Verschwörung: Arbeiter, Christen, Juden
Begründung und Erläuterung der Anklagepunkte bilden den Hauptteil der Rede. Aber im Unterschied zur Anklageschrift stellt Jackson an den Beginn eine ausführliche Schilderung des Weges der NSDAP an die Macht. Das ist aus Gründen der Chronologie und auch im Sinne der Verschwörungsthese naheliegend. Er will – wiederum mit den Kriterien des Juristen und nicht denen des Historikers – die verbrecherischen Züge herausarbeiten: Nicht dass eine Partei die nationale Selbstbestimmung gegen die Versailler Verträge auf ihre Fahnen schreibt, ist sein Vorwurf, sondern dass von Anfang an klar war, dass sie die Revision von Versailles und die weitergehenden Ziele unbedingt und notfalls mit Aufrüstung und Krieg102 durchsetzen will; dass Juden von Anfang an unter diskriminierende Gesetze fallen und aus öffentlichen Ämtern entfernt werden sollen; dass die Zeitungen von Anfang an als Systempresse angegriffen werden; dass gegen Gemeinschaftsschädlinge gehetzt wird; dass der Glaube an die germanische Rasse als neue Religion durchgesetzt werden soll. Die NSDAP ließ sich nicht auf die Konkurrenz der Parteien in einer pluralistischen Demokratie ein, sie verfolgte ihre Ziele notfalls gewaltsam. Jackson verweist auf die Doppelstrategie von Gewalt und parlamentarischem Weg. Das erste Ziel im Rahmen des Gesamtplanes war der totalitäre Polizeistaat,103 das nächste die Befestigung der Nazi-Macht, dann die Herrschaft über Europa.
Neben dem Parteiprogramm, der Schrift „Mein Kampf“ und den tatsächlichen Stationen von Machtergreifung, Terror und Kriegsvorbereitung identifiziert Jackson den „Vernichtungsplan des Nazi-Programms“104 am deutlichsten in einem brieflichen Statement des Generaloberst von Fritsch vom 11. Dezember 1938, in dem dieser drei zu gewinnende Hauptschlachten benennt.105 Jackson gliedert seine Analyse analog zu diesen drei vom deutschen General markierten Gruppen.106 Er stützt sich also auf eine eher marginale Äußerung, die sicherlich die NS-Ideologie kennzeichnet, aber kaum beanspruchen kann, die Entwicklung der NS-Politik maßgeblich beeinflusst zu haben und gewiss keine bedeutende historische Quelle darstellt.
Der amerikanische Liberale Jackson scheut sich, direkt die Organisationen der Arbeiterbewegungen in Deutschland zu nennen und spricht lieber etwas zu allgemein von „den Arbeitern“. Auch der Bolschewismus als der von den Nazis deklarierte Hauptfeind kommt in der Rede nicht vor. Aber ohne Zweifel war ein Hauptziel des Nationalsozialismus, die SPD und vor allem die KPD auszuschalten. Auch der indirekte Bezug auf die Organisationen der Arbeiterbewegungen als internationale und damit nicht-nationalistische und nicht-militaristische, sondern eher pazifistische Strömungen ist plausibel, ebenso wie der auf das Judentum als den „Hauptfeind“ in der ideologischen Schlacht. Das Ziel des Planes, so Jackson, konnten die Nationalsozialisten hier nahezu ganz erreichen, geschätzte 60 Prozent der europäischen Juden seien ermordet worden.107 In der Rede kommen hier auch schon detaillierte Zahlen und Beispiele vor: Vernichtung der Juden in Litauen, nachgewiesen durch den Bericht des Gebietskommissars von Sluzk vom 30. Oktober 1941,108 Vernichtung des Warschauer Ghettos, nachgewiesen durch Stroops Bericht,109 usw.
Schwerer nachvollziehbar ist die herausragende Bedeutung, die Jackson der Verfolgung der christlichen Kirchen, auf einer Ebene mit der Arbeiterbewegung und mit dem Judenmord, beimisst. Die christlichen Kirchen sollten, so das Ziel der Nationalsozialisten, keine Macht über die Deutschen mehr haben. Das Christentum ist vielfach mit Recht als einer der geistigen Hauptgegner beschrieben worden.110 Aber waren die Kirchen damit schon zum Hauptfeind neben Judentum und Arbeiterbewegungen geworden? Jacksons Beispiel aus Baden-Württemberg ist schwach und erscheint eher zufällig.111 Der NS-Staat schloss mit dem Vatikan 1933 ein Konkordat ab, sodass die Katholische Kirche in Deutschland in ihrer institutionellen Funktionalität bestehen bleiben konnte – trotz der oft scharfen Auseinandersetzungen und der Verfolgung einzelner