Jackson geht auf diese „Antworten auf Roosevelt“ natürlich nicht ein, ebenso wenig auf die Frage nach der Legitimität kolonialer Eroberungskriege, obwohl hier durchaus ein Dissens zwischen der Roosevelt’schen Vision einer neuen Weltordnung und Frankreichs und Großbritanniens Beharren auf der Rechtmäßigkeit ihrer Kolonialimperien bestand. Wenn Jackson allerdings sein Bedauern über die Entwicklung vom universellen, naturrechtlich begründeten Völkerrecht eines Grotius hin zum imperialistischen Völkerrecht, das eben Kriege gegen „unziviliserte Völker“ grundsätzlich rechtfertigte,86 ernst meinte, wäre hier eine deutlichere Sprache angebracht gewesen, die sich freilich, wie so Manches im Prozess, aus diplomatischen Rücksichten verbot.87 Diese Fragen blieben aber, trotz der Vermeidung durch die Ankläger, im Verfahren auf die eine oder andre Weise präsent.
Jackson konzentrierte sich hier jedenfalls, streng in der Rolle des Juristen, darauf, die Kombination von Planung, verbrecherischen Zielen und gesellschaftlicher wie wirtschaftlicher Wucht herauszuarbeiten, mit der Deutschland den Krieg plante und durchführte. Der Rechtsbegriff, den er dafür in das IMT einführte, ist die „Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges“.
Die Schwierigkeiten mit dem Tatbestand „Verschwörung“
Für diese Beweisführung waren allerdings die tatsächlich in Nürnberg vor Gericht stehenden Angeklagten nur bedingt geeignet. Sind sie wirklich die Anstifter und Rädelsführer, die Europa mit gewalttätiger Rechtlosigkeit überzogen haben?88 “Conspiracy” war erst im Frühjahr 1945 auf die Tagesordnung gekommen. Im erwähnten Memorandum vom 22. Januar 1945 wurde Präsident Roosevelt für die Jalta-Konferenz als Anklagepunkt die Beteiligung und Durchführung der Angeklagten an einem verbrecherischen Gesamtplan von Anfang an empfohlen. Vor allem die Franzosen wandten sich auf der Londoner Konferenz aber zunächst entschieden gegen dieses ihrer Rechtsordnung fremde Konzept.89 Nach heftigem Streit einigte man sich aber dennoch auf die Formulierung des Art. 6 des IMT-Statuts, die „Verschwörung“ zwar nicht als eigenen Anklagepunkt bzw. Straftatbestand aufführt, aber doch als Nachsatz zu den drei materiellen Anklagepunkten:90
„Anführer, Organisatoren, Anstifter und Teilnehmer, die am Entwurf oder der Ausführung eines gemeinsamen Planes oder einer Verschwörung zur Begehung eines der vorgenannten Verbrechen teilgenommen haben, sind für alle Handlungen verantwortlich, die von irgendeiner Person in Ausführung eines solchen Planes begangen worden sind.“
“Conspiracy” bildete für Jackson die notwendige Klammer zwischen allen Angeklagten als „Nazi-Verschwörern“ und den einzelnen Personen, die mehr oder eben auch weniger mit dem Angriffskrieg zu tun hatten. Die Bedeutung des Begriffs war mehrschichtig. Zum einen sah man anfangs darin eine Möglichkeit, die Verbrechen der Nazis gegen die eigene Bevölkerung auch vor dem Krieg als Teil der Verschwörung mit zu erfassen. Zum andern schien der Punkt auch wichtig für die Anklage der NS-Organisationen als verschwörerischen kriminellen Vereinigungen für die Durchführung der NS-Verbrechen. Schon in London zeichnete sich allerdings ab, dass der Verschwörungsvorwurf nur auf das Verbrechen gegen den Frieden angewendet würde. Nach Jacksons emphatischer Betonung des Verschwörungstatbestands in seiner Eröffnungsrede verlor das Konzept, auch wegen des Desinteresses der übrigen Ankläger, immer mehr an Bedeutung und spielt auch im Urteil eine untergeordnete Rolle. Obwohl alle Angeklagten auch der Verschwörung beschuldigt wurden, verurteilte das Gericht am Ende nur acht der 21 Angeklagten deswegen.91
Verbrechen von Deutschen an Deutschen
Was war das Ziel dieser groß angelegten Verschwörung? In Jacksons Sicht in erster Linie der Eroberungskrieg, auch wenn es ihm nicht notwendig schien, dessen Ziele genauer zu definieren, da ja der Angriffskrieg unabhängig davon schon ein Verbrechen war.92 Das Konstrukt der Verschwörung erlaubte ihm aber auch, Verbrechen der Nazis vor dem Krieg, einschließlich der Verbrechen gegen die deutsche Bevölkerung selbst, in die Anklage einzubeziehen:
„Wohl lassen sich geographisch und zeitlich die Verbrechen gegen die Menschlichkeit zusammenfassen und unterscheiden: einmal innerhalb Deutschlands vor und im Kriege, und zum anderen in den besetzten Gebieten während des Krieges. In den Plänen der Nazis aber waren sie nicht voneinander getrennt. Sie gehören zu dem einheitlichen und fortlaufend betriebenen Plan, Völker und Einrichtungen auszurotten, von denen einmal der Sturz ihrer „neuen Weltordnung“ ausgehen könnte. Wir betrachten daher in unseren Darlegungen diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit als Ausdruck eines einheitlichen Planes der Nazis…“93
In London hatte er Ende Juli hinter verschlossenen Türen in dieser Frage sehr viel härter argumentiert und erklärt, dass „die Art, wie Deutschland seine Bewohner behandelt, oder wie irgendein anderes Land seine Einwohner behandelt,“ die USA so wenig anginge wie es umgekehrt keinem andern Land zustehe, sich in die inneren Probleme der USA einzumischen. Auch die Judenvernichtung werde erst zu einer Angelegenheit von internationaler Bedeutung, wenn sie als Teil der Planung für einen illegalen Krieg zu betrachten sei. Andernfalls, so Jackson, „denke ich, haben wir keine Grundlage, uns mit diesen Verbrechen (“atrocities”) zu beschäftigen.94 In der gleichen Sitzung ließ Jackson auch ein Motiv erkennen, das ihn zu dieser restriktiven Haltung bewog: „In unserm eigenen Land gibt es gelegentlich einige bedauerliche Umstände, wo Minderheiten unfair behandelt werden.“95 Anschließend betonte er ausdrücklich, dass selbst die Konzentrationslager nur deswegen Gegenstand internationalen Rechts sein könnten, weil sie der Vorbereitung oder Durchführung des illegalen Kriegs dienten.
In der Nürnberger Rede setzt Jackson die Betonungen anders. Die Bedenken, dass durch eine von der Kriegsverschwörung losgelöste Anklage von NS-Verbrechen gegen deutsche Juden oder Oppositionelle ein auch für die Ankläger gefährlicher Präzedenzfall geschaffen werden könnte, werden nicht mehr ausgesprochen. Stattdessen werden diese Verfolgungen ausführlich vorgetragen, um die ganze Grausamkeit der Angeklagten zu illustrieren. Aber sie bleiben eingebettet in den großen verschwörerischen Plan der Nazis, den “Nazi Plan”.
Der Nazi Master Plan
Die Vorstellung von einer umfassenden Verschwörung zur Begehung der NS-Verbrechen war ein zentrales Anliegen von Jacksons Anklage. Wie ein roter Faden durchzieht Jacksons Anklage die Rede von einem gemeinsamen Plan und überhaupt von Plan und Plänen:
„Es ist nicht meine Aufgabe in diesem Prozeß, mich mit den einzelnen Verbrechen zu beschäftigen. Ich habe mich mit dem gemeinsamen Plan oder der Absicht des Verbrechens zu befassen und will mich nicht bei einzelnen Verstößen aufhalten. Ich habe nur zu zeigen, in welchem Umfange sich diese Verbrechen zugetragen haben; und ferner, daß diese Männer hier in den verantwortlichen Stellen waren, daß sie die Pläne und die Entwürfe erdacht haben, für