Auch dem grassierenden Türkenhass setzte Erasmus seine auf Latein verfasste Schrift »Klage des Friedens« entgegen, in der er den Krieg grundsätzlich ablehnt. Erasmus’ unerschütterlicher Pazifismus hielt ihn auch davon ab, Europa groß zu denken. Er wollte ein friedfertiges Europa und wandte sich deshalb dezidiert gegen Erweiterungspläne und Grenzverschiebungen. In seiner heute naiv anmutenden Sprache will er die Fürsten darauf verpflichten, ihrem Land treu zu bleiben und ihre Macht nicht auszudehnen. Er wendet sich auch gegen das in der Hocharistokratie übliche weltweite Heiratskarussell, wenn er schreibt: »Durch solche wechselseitigen Heiraten geschieht es, daß einer, der in Irland geboren ist, jetzt in Indien regiert, oder wer neulich in Syrien herrschte, bald König von Italien ist. So kommt es, daß keines von beiden Ländern einen Fürsten hat; denn er verließ sein früheres Land und wird in dem späteren nicht anerkannt, weil er dort unbekannt ist.«58 Ein solches Bild von Europa würde heute in der Brüsseler Bürokratie wenig Anhänger finden; umso erstaunlicher ist es, dass ausgerechnet Erasmus’ Name im universitären Milieu für das Gegenteil von dem in Gebrauch ist, wofür der niederländische Humanist stand. »Erasmus-Programme« hetzen Generationen junger Studierender von Universitätsstadt zu Universitätsstadt, um ihnen ein »europäisches« Gefühl zu vermitteln, das so gar nicht nach dem Geschmack des Namensgebers war.
Einen Plan zur totalen europäischen Brüderlichkeit legte zur Mitte des 17. Jahrhunderts der tschechische Theologe und Philosoph Jan Amos Komenský vor. Für den 1592 in Mähren geborenen späteren Bischof der Böhmischen Brüder war die Schlacht am Weißen Berg (1620) das einschneidendste Erlebnis seines Lebens. Habsburgs Sieg über die protestantischen Stände löste nach 1620 eine umfassende gegenreformatorische Repressionswelle aus. Komenský selbst verbrachte Jahre auf der Flucht. Unter diesem Eindruck stehend, verfasste er 1645 einen »Allgemeinen Weckruf«, in dem er Europa nicht als ein von Reichen gebildetes Konstrukt sieht, sondern eine gemeinsame politische Kultur ins Zentrum seiner utopischen Vorstellungen stellt. »Da wir alle Mitbürger einer Welt sind, was hindert uns, in einem Gemeinwesen unter gleichen Gesetzen zusammenzufinden«,59 wünscht sich Komenský eine Welt bzw. einen Kontinent ohne religiöse und politische Verfolgung. Für den Historiker Rolf Hellmut Foerster gehören Ideen wie jene von Komenský nicht in die europäische Schublade, er sieht in den Texten des tschechischen Philosophen eine »Mischung aus panchristlicher Gläubigkeit und Naturlehre« und diffamiert sie als »unerträgliche Traktätelei«.60
Wesentlich konkreter als die obigen idealistischen Vorstellungen eines friedlichen Zusammenlebens in Europa äußerte sich der 1644 in London geborene William Penn. Sein 1692 veröffentlichter europäischer Einigungsplan sah einen tatsächlich ganz Europa umfassenden europäischen Staatenbund mit einem Reichsrat vor. Penn stammte aus einer der reichsten Familien Englands. Von seinem Vater erbte er im Alter von 37 Jahren drei Dutzend Schuldtitel gegen König Karl II. Um diese Schuld zu tilgen, vermachte ihm König Karl II. ein riesiges Landstück in Nordamerika, das dieser in Erinnerung an seinen erblassenden Vater Penns Waldland, Pennsylvania, nannte. Zuvor hatte William Penn als Jugendlicher wegen seiner Mitgliedschaft bei den Quäkern zwei Mal Bekanntschaft mit englischen Gefängnissen gemacht, die Religionsfreiheit war auf den britischen Inseln nicht besonders ausgeprägt. Protestantische Ethik und unermesslicher Reichtum paarten sich bei Penn zu einem liberalen, toleranten und auch pazifistischen Weltbild. Seine amerikanischen Besitzungen, die heutigen Bundesstaaten Pennsylvania und Delaware, spiegelten dies modellhaft wider. Anstatt die indianischen Bewohner zu verjagen und zu töten, wie dies an anderen Orten üblich war, handelte Penn mit ihnen Verträge aus, die sowohl zugezogenen Weißen wie Ureinwohnern persönliche Freiheit zusicherten. Penns Credo der Religionsfreiheit machte zudem aus Pennsylvania einen Ort der Zuflucht für in Europa verfolgte religiöse Minderheiten wie Hugenotten, Böhmische Brüder oder Juden, die er auch persönlich zur Emigration ermutigte. Nach Konflikten innerhalb der Verwaltung Pennsylvanias entschloss sich Penn im Jahr 1712, das Land wieder an die englische Krone zu verkaufen.
Schon zuvor hatte William Penn 1692 sein politisches Vermächtnis in Form einer viel gelesenen Schrift hinterlassen: »Essay über den gegenwärtigen und zukünftigen Frieden in Europa«. Und dieser Essay hat es in sich. Erstmals wird Europa nicht mehr von einer religiösen, politischen und Friedensidee aus gedacht, sondern als wirtschaftliche Einheit, wobei explizit auch der sogenannte »gerechte Krieg« abgelehnt wird. Penn will keinen Fürstenbund mehr, sondern ein Parlament. »Die souveränen Fürsten müßten (…) aus dem gleichen Grund, der die Menschen ursprünglich dazu bewog, sich zu einer Gesellschaft zusammenzuschließen, nämlich aus Friedens- und Ordnungsliebe, übereinkommen, durch ihre bevollmächtigten Vertreter einen allgemeinen Reichstag, eine Generalversammlung oder ein Parlament zu bilden.«61 Das Soldatenhandwerk will Penn gänzlich abschaffen, stattdessen soll die Jugend zu Kaufleuten, Ingenieuren und Bauern erzogen werden.
Die Rechtsgleichheit, die Penn schon in Amerika zwischen Weißen und Indianern ausprobiert hatte, will er auch in »seinem« Europa verwirklicht wissen. Dies entsprach auch einer in seinen Kreisen verbreiteten protestantisch-bürgerlichen Ethik. Logischerweise beinhaltete dies auch die Vision einer Reisefreiheit, die jedem Mann einen Pass garantieren müsse, »der durch die Liga des Friedensstaates legitimiert wird«.62
Das sensationell Neue, bislang historisch nie Dagewesene am Penn’schen Europaplan war, dass er den ganzen Kontinent umfassen sollte. Sein Reichstag bzw. sein Parlament sollte sich aus folgenden Vertretern zusammensetzen: Zwölf aus dem Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation), je zehn aus Spanien, Frankreich, dem Osmanischen Reich und Russland, acht aus Italien, sechs aus England, je vier aus Schweden, Polen und den Niederlanden, je drei aus Venedig, Dänemark und Portugal und je einem aus Holstein und Kurland. Türken und Russen im 77 Plätze umfassenden Europaparlament! Dieser Gedanke war revolutionär. In den kommenden 330 Jahren bis heute sollte er kaum je wieder auftauchen, wenn von einem Zusammenschluss Europas die Rede war (und ist).
Zumindest mit dem Russland Peters des Großen wollte es auch der französische Sozialphilosoph und Publizist Charles de Saint-Pierre (1658−1743), genannt Abbé de Saint-Pierre, versuchen. Ab 1712 entwickelte er einen Plan für einen »ewigen Frieden in Europa«, der in relativ unlesbaren Traktaten bis 1717 erschien. Wieder wird ein Staatenbund vorgeschlagen, der diesmal 24 Mitglieder inklusive Russland umfassen soll. Ein solcher Bund wäre, so Saint-Pierre, in der Lage, mit den Osmanen ein Schutzbündnis zu schließen. Ein permanent tagendes Schiedsgericht sollte darüber wachen, »den Kriegszustand in einen ewigen Frieden (zu) verwandeln«.63 Als dann in den 1740er-Jahren der preußisch-österreichische Krieg um Schlesien ausbrach, sah sich Saint-Pierre veranlasst, den Preußenkönig Friedrich II. aufzufordern, ein solches Schiedsgericht, das freilich noch nicht existierte, zur Schlichtung anzurufen. Geworden ist daraus nichts. Stattdessen ist ein Brief von Friedrich II. an Voltaire bekannt, in dem sich dieser über Saint-Pierre lustig macht. Der deutsche König schreibt darin: »Der Abbé de Saint-Pierre (…) hat mir ein schönes Werk über die Art und Weise, wie in Europa der Frieden wiederhergestellt und für immer gesichert werden könnte, zugesandt. Die Sache ist sehr praktisch, um sie zustande zu bringen fehlt weiter nichts als die Zustimmung Europas und einige andere Kleinigkeiten dieser Art.«64 Die Friedensidee von Saint-Pierre zerbrach an der Wirklichkeit.
Jean-Jaques Rousseau machte dann die Gedanken Saint-Pierres lesbar, interpretierte sie später neu und erweiterte sie um soziale Aspekte. Im Auftrag seiner Arbeitgeberin Madame Dupin verfasste der große Aufklärer im Jahr 1756 die Schrift »Extrait du project de paix perpetuelle de Monsieur l’Abbé de Saint-Pierre« (Auszug aus dem Plan eines ewigen Friedens von Herrn Abbé de Saint-Pierre). Darin greift er die Idee eines europäischen Fürstenbundes auf, in dem religiöse Toleranz, völkerrechtliche Gleichheit und gemeinsamer Handel die Fundamente einer friedlichen europäischen Zukunft sein sollen.65 Seinem Weltbild entsprechend, das er kurz darauf im »Contract social« (Gesellschaftsvertrag) publizierte, forderte