Für das Europabild des 19. Jahrhunderts wichtiger als die »Heilige Allianz« war der ebenfalls auf dem Wiener Kongress gegründete »Deutsche Bund«. Als größter Staatenbund, den der Kontinent bis dato gesehen hatte, umfasste er sämtliche deutschen Fürstentümer, große Teile der Habsburgermonarchie, die bis 1806 zum Heiligen Römischen Reich gehört hatten, die Niederlande und Dänemark. Als eine Art völkerrechtlicher Vertrag sollte er für die innere und äußere Sicherheit der Mitgliedstaaten sorgen. Neben einem Rat der elf größten Staaten und einem Plenum existierte ein ständig tagender Gesandtenkongress in Frankfurt/Main, der sogenannte Bundestag.
Die Kernaufgabe des »Deutschen Bundes« bestand darin, jegliche revolutionäre Strömung im Keim zu ersticken. Das Trauma der Französischen Revolution saß den Fürsten Europas noch in den Knochen. Deshalb wurde der Informationsaustausch im Polizei- und Spitzelwesen großgeschrieben und auch die einzelnen staatlichen Zensurbehörden miteinander verknüpft. Im Bundesbeschluss vom 20. September 1819 über die Maßregelung von Universitäten, die als potenzielle Brutstätten revolutionärer Umtriebe gefürchtet waren, kommt dies anschaulich zum Ausdruck. Darin werden die einzelnen Mitgliedsstaaten des »Deutschen Bundes« aufgefordert, bei jeder Universität entsprechend aufmerksame »Curators«, Spitzel, einzustellen, um über die Vorgänge an den Ausbildungsstätten stets informiert zu sein. »Die Bundesregierungen«, heißt es wörtlich, »verpflichten sich gegeneinander, Universitäts- und andere Lehrer, die durch erweisliche Abweichung von ihrer Pflicht, (…) durch Mißbrauch ihres rechtmäßigen Einflusses auf die Gemüther der Jugend, durch Verbreitung verderblicher, der öffentlichen Ordnung und Ruhe feindseliger oder die Grundlagen der bestehenden Staatseinrichtungen untergrabender Lehren, ihre Unfähigkeit zur Verwaltung des ihnen anvertrauten wichtigen Amtes an den Tag gelegt haben, von den Universitäten und sonstigen Lehranstalten zu entfernen.« Und um sicher zu gehen, dass einmal enttarnte revolutionäre Subjekte nicht anderswo umtriebig werden, heißt es abschließend: »Ein auf solche Weise ausgeschlossener Lehrer darf in keinem anderen Bundesstaate bei irgend einem öffentlichen Lehr-Institut wieder angestellt werden.«49 Die suprastaatliche Einrichtung des »Deutschen Bundes« funktionierte als Repressionsinstrument gegen republikanische Gesinnung bis nach den Revolutionen des Jahres 1848 und zerbrach dann am preußisch-österreichischen Gegensatz um die Führung, der sich 1866 in der Schlacht von Königgrätz entlud.
Nichtsdestotrotz diente der »Deutsche Bund« manch einer weiter gedachten europäischen Idee als Folie. So entwarf der Leiter der dänisch-königlichen Reichsbank, Conrad Friedrich von Schmidt-Phiseldek, ein Projekt eines wirtschaftlich geeinten europäischen Bundes, der auf dem »Deutschen Bund« aufbauen und wie dieser Frankfurt/Main als Zentrum ausweisen könnte. Als Banker fürchtete er um die Konkurrenzfähigkeit Europas gegenüber dem erstarkenden Nordamerika. Der europäische Kontinent sei ökonomisch zersplittert, durch gegenseitige Ein- und Ausfuhrverbote, Hafen- und Flusssperren sowie in einzelnen Staaten monopolistisch agierende Handelskonzerne geschwächt; er müsse sich, so Schmidt-Phiseldek, »endlich als ein Staatsganzes begreifen«.50 Die Vereinigten Staaten von Amerika sieht der Däne im Jahr 1820 durch »Eintracht und gesetzlich freie Entwicklung« geprägt, ein Vorbild für Europa. Die Tatsache, dass sich Amerika in jenen Jahren am Höhepunkt der ethnischen Säuberungen befand, die zur Auslöschung der indianischen Urbevölkerung führten, übersah er – ganz der Idee von der »White Supremacy« verhaftet – nonchalant.
Konkret träumte Schmidt-Phiseldek von einem Europa mit einheitlichem Rechts- und Verkehrswesen, einer gemeinsamen Währung und einer bewaffneten Streitmacht und einem europäischen Kongress, der von allen souveränen Staaten beschickt werden sollte. Nur so könne dem »Weltteil in die Schranken getreten (werden), der mit stets wachsender Riesenkraft dem ganzen Europa die Fehde bietet.«51 Eine Europavision als Überholmanöver gegenüber der USA.
Etwas anders gelagert waren die Ideen des deutschen Nationalökonomen Friedrich List (1789−1846). Ihn trieb die ungleiche Entwicklung europäischer Staaten an, der er mit Schutzmaßnahmen für die deutschen Länder begegnen wollte. Die Niederlage Napoléons brachte im Jahr 1815 auch die Aufhebung der Kontinentalsperre mit sich, die für Kontinentaleuropa einen Schutz vor der Konkurrenz billiger englischer Fabrikprodukte gebracht hatte. Plötzlich überschwemmten englische Waren die wirtschaftlich ungeschützten 39 deutschen Staaten und setzten dort die erst im Aufbau befindlichen Industrien unter Druck. List, der wegen seines Eintretens für kommunale Selbstverwaltung in Württemberg politisch verfolgt wurde und in die USA ging, kam als reicher Kohlengruben- und Eisenbahnbesitzer in seine deutsche Heimat zurück und gründete 1819 den »Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbeverein«. Dieser trat gleichzeitig für die Aufhebung von Binnenzollgrenzen und die Errichtung von Außenzollmauern ein, wie sie 1834 im Deutschen Zollverein umgesetzt wurden, dem die Habsburgermonarchie jedoch nicht beitrat. Auf diese Art wollte Friedrich List »eine gleichmäßige Stufe von Kultur und Macht erreichen«.52
Protektionismus sah er als notwendiges Mittel für eine nachholende Entwicklung an, weil deutsche Fürstentümer »in der Gewerbeindustrie, in Handel und Kolonien, in Schiffahrt und Seemacht noch so unendlich weit hinter England stehen.« Lists Idee eines ganz Deutschland umgebenden Schutzzolls wird bis in unsere Tage unterschiedlich interpretiert. Die einen sehen darin eine rein defensive Maßnahme zum Ausgleich unterschiedlicher nationaler Entwicklungsniveaus. Andere interpretieren in die versuchte Beseitigung nationaler Rückstände das Ziel eines geeinten imperialistischen Auftretens der westlichen Industrieländer gegenüber Kolonien und abhängigen Gebieten hinein. Es war wohl von beidem etwas. Denn List spricht sowohl von einer »Universalunion, welche der Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts nur zuträglich sein kann«53, als auch von zu zivilisierenden Regionen im östlichen Mittelmeer und Nordafrika. Er ist also auf wirtschaftlichen Ausgleich in Europa bedacht und gleichzeitig Stichwortgeber für europäischen Imperialismus, zur Mitte der 19. Jahrhunderts keine ungewöhnliche Kombination.
Geradezu wegweisend für spätere Europaideen war der Orientalist und Mitglied der Académie française, Ernest Renan. Er machte sich vor allem als Nationen-Forscher einen Namen, indem er die Nation als eine historisch sich ändernde Solidargemeinschaft darstellte. Seinem berühmt gewordenen Ausspruch »Die Nation ist ein tägliches Plebiszit« fügte er den Wunsch hinzu, »das Nationalitätsprinzip durch das Prinzip der Föderation (zu) regulieren.«54 Mitten im preußisch/deutsch-französischen Krieg 1870/71 erhob Renan die Forderung nach einer europäischen Konföderation, die er »Vereinigte Staaten von Europa« nannte. Diese sollten multinational aus (dem erst im Entstehen begriffenen) Deutschland, Frankreich und England zusammengesetzt sein. Wie die allermeisten Vorstellungen von Europa verstand sich auch das Renan’sche Projekt in klarer Abgrenzung, wenn nicht Feindschaft zu fremden Integrationsräumen, die als bedrohlich empfunden werden. Die Gegner bzw. Konkurrenten seiner europäischen Einigungsidee sah er in Nordamerika, dem russischen Osten und dem Islam, den er als »vollkommene Negation Europas«55 begriff. Renan träumte vom »endgültigen Siegeszug Europas« und vom »Triumph des indoeuropäischen Geistes« als Zivilisationsprojekt. Das aus England, Frankreich und Deutschland herbeiphantasierte Dreigestirn sollte »die Welt, vor allem Rußland, mit den Mitteln des Geistes auf die Pfade des Fortschritts führen«.56
Utopien und Friedensprojekte
Den bisher besprochenen Europaplänen war – trotz sehr unterschiedlicher geopolitischer Ausrichtungen – eines gemeinsam: sie bauten sich an einem Feindbild auf, das durchgehend anti-osmanisch/türkisch/muslimisch geprägt war und sich bis auf eine Ausnahme (Leibniz) auch gegen Russland wandte. Im Übrigen beruhten die französischen oder deutschen Europaträume auf einem einheitlichen Raum, dessen Erweiterungs- oder Konsolidierungspläne auf Kosten des jeweils anderen umgesetzt werden sollten. Um derlei Europaphantasien ins Werk zu setzen, galt Krieg als zentrales Mittel.
Dass es auch Europaideen ganz anderer Art gab, soll hier nicht verschwiegen werden, wenngleich utopische und pazifistische Projekte von der meisten Literatur mangels Durchsetzungsfähigkeit oft nicht ernst genommen und nicht unter dem Stichwort »Europa« vermerkt werden.
Eine frühe Idee eines friedlichen Zusammenlebens in Europa, für dessen Zustandekommen auch kein Krieg akzeptiert oder gar eingefordert wird,