Pierre Dubois im Wortlaut: »Zur Wiederbelebung und Behauptung des Heiligen Landes muß eine gewaltige Kriegsschar aufgeboten werden. Wenn so viele Menschen dorthin ziehen und dort bleiben wollen, wird es notwendig sein, daß die katholischen Fürsten in Eintracht leben und keine Kriege gegeneinander führen. (…) Um den Frieden zu sichern, soll der Papst ein Konzil sämtlicher Könige und Fürsten einberufen, das die Leitung aller Staatsgeschäfte in Händen hat. Der Krieg zwischen christlichen Staaten ist verboten.«28
Ein Auszug wie dieser lässt unschwer erkennen, warum Dubois bei aktuellen Rezeptionen und Anthologien über Europabilder nicht fehlen darf und was ihm darin einen so prominenten wie beliebten Platz verschafft: Europa als friedliches Projekt nach innen, dessen Einheit durch Aggression nach außen hergestellt wird. Realpolitisch ging es Dubois darum, die vorhandene Macht des französischen Königs weiter zu stärken. Dieser sollte der von ihm angedachten Delegiertenversammlung der Fürsten vorstehen. Den Papst wies er die Rolle als Schiedsrichter bei Meinungsverschiedenheiten zu. Oder anders gesagt: Dubois’ »Europa« war gegen die Institution des »Heiligen Römischen Reiches« gerichtet, in dem die Habsburger noch nicht die spätere Führungsrolle gepachtet hatten, und es sollte die aufsteigende Macht des Papstes bremsen. So gesehen erscheint seine Schrift über die Wiedergewinnung des Heiligen Landes nicht ein Entwurf einer föderativen Verbindung europäischer Mächte, wie er in der einschlägigen Geschichtswissenschaft heute dargestellt wird, sondern ein Werkzeug zur Legitimierung der Macht für Philipp den Schönen gewesen zu sein. Verwirklicht wurde all das nicht. Im Gegenteil: Philipp wurde von Papst Bonifatius VIII. exkommuniziert, worauf sich dieser mit einem Attentatsversuch revanchierte. Auf der Flucht vor Philipps Schergen starb Bonifatius, nachdem er den Habsburger Albrecht I. in dessen Funktion als Reichskönig um Hilfe angefleht hatte. Papst-Nachfolger Benedikt XI. starb nach nur wenigen Monaten im Amt an einer Vergiftung, die ihm mutmaßlich der Franzosenkönig Philipp zufügen ließ. Im Zuge dessen gelang es Philipp auch, die Residenz des nächsten, ihm nun ergebenen Papstes nach Avignon zu verlegen. So sah Europa zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Wirklichkeit aus.
Von einer weltumspannenden Monarchie träumte auch der florentinische Dichter und Denker Dante Alighieri (1265−1321). Eine solche Herrschaftsform konnte damals freilich nur »europäisch« gedacht werden. Anders als sein Zeitgenosse Dubois gründete Dantes Sehnsucht nach der Wiederherstellung des (römischen) Kaiserreichs nicht in der Idee, die stärkste westliche Macht auf dem Kontinent, Frankreich, in den Mittelpunkt zu stellen. Das war verständlich, galten doch zu jener Zeit die französischen Könige aus dem Hause Anjou im südlichen Italien als Fremdherrscher. Dantes Vision eines einheitlichen Staatsgebildes richtete sich dementsprechend gegen den französischen Herrschaftsanspruch. In den bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen, die Ende des 13. Jahrhunderts in oberitalienischen Städten tobten, kämpfte er anfangs auf der Seite der eher papsttreuen Guelfen (gegen die kaisertreuen Ghibellinen), um sich bald einer Splittergruppe anzuschließen, die sich immer mehr Fraktionen zum Feind machte. Dantes Flucht aus Florenz folgte die Konfiskation seines Besitzes und 1302 die Verhängung der Todesstrafe, derentwegen er sein restliches Leben im Exil verbrachte.
Für den modernen Europaforscher sind Dantes Schriften insofern von Interesse, als darin erstmals der Konflikt zwischen Kaiser und Papst, der schon seit dem Investiturstreit des 11. Jahrhunderts brodelte, zur politischen Kraftprobe wurde.29 Die Aufgabe des Papstes sah der mittelalterliche Philosoph darin, so viele Menschen wie möglich zum ewigen Leben, zum Paradies, zu führen, während der weltliche Herrscher für das irdische Glück des Menschengeschlechts zuständig sei. Diese Ansätze eines Dualismus, die viel später in der Trennung von Kirche und Staat ihre Erfüllung gefunden haben, werden als konstitutiv für das (westliche) Europabild gesehen. Auf politisch-gesellschaftlicher Ebene setzte sich das System der zweigeteilten Herrschaft von Fürst und Ständen durch und letztlich in der Gewaltentrennung des bürgerlichen Parlamentarismus fort.
Die Eroberung Konstantinopels durch das osmanische Heer Sultan Mehmeds II. im Jahr 1453 löste Schockwellen bis an den Atlantik aus. Sie war zugleich der Auftakt für eine bislang nie dagewesene Europa-Identität unter führenden Intellektuellen. Einer von ihnen, der Priester, Dichter und Historiker Enea Silvio Piccolomini (1405−1464) warf sich diesbezüglich besonders ins Zeug. Mit seiner »Türkenrede« auf dem Frankfurter Reichstag 1454, den er als kaiserlicher Kommissar leitete, nahm er die Bedrohung aus dem Osten zum Anlass, um zum gerechten, europäischen Krieg gegen die Ungläubigen aufzurufen: »Wenn wir die Wahrheit gestehen sollen«, so Piccolomini, »hat die Christenheit seit vielen Jahrhunderten keine größere Schmach erlebt als jetzt. (…) Denn in früheren Zeiten sind wir nur in Asien und Afrika, also in fremden Ländern, geschlagen worden, jetzt aber wurden wir in Europa, also in unserem Vaterland, in unserem eigenen Haus, aufs schwerste getroffen. (…) Niemand dürfte daran zweifeln, wie ihr euch verhalten werdet, ihr edlen Deutschen, wenn ihr diesen Krieg übernehmt, zu dem der Kaiser uns ermahnt, um den der Papst uns bittet, den Christus uns befiehlt, zur Verherrlichung und in der Liebe zu ihm.«30
Es ist ein Aufruf zum Krieg als einer explizit europäischen Angelegenheit, dem Kaiser und dem Papst geschuldet, in der Liebe zu Christus. Piccolomini nutzte die Gunst der Stunde, um sich in Szene zu setzen. Einen neuen Kreuzzug brachte er schlussendlich nicht zustande, für seine Wahl zum Papst im Jahre 1458 reichte sein Engagement gegen die Türken allemal. Als Pius II. trat er in die Fußstapfen von Apostel Petrus. Als Gelehrter hatte er sich schon zuvor einen Namen und um den Europabegriff verdient gemacht. »Europa« hieß das unter seiner Federführung entstandene ethnographisch-kosmographische Hauptwerk, das auf den Band »Asien« folgte. Es war die einzige Schrift des Mittelalters, die mit der Titelzeile »Europa« erschien und es dementsprechend kultur-religiös definierte.31
Der Historiker und Europaforscher Rolf Hellmut Foerster wertet die berühmte Türkenrede Piccolominis als defensiv. »Man muß«, schrieb Foerster 1963, »in diesem Aufruf zum Kreuzzug nicht den Plan einer Aggression, sondern eines Verteidigungsaktes sehen.«32 Dieses im christlichen Westen gängige Narrativ sieht in der Eroberung von Konstantinopel durch die muslimische Soldateska korrekterweise eine die Christenwelt bedrohende Aggression, die es abzuwehren gilt. Ein tiefergehender historischer Rückblick zeigt allerdings, dass die Geschichte der Kreuzzüge ab 1096 einen expansiven Charakter aufweist. Und seit der 4. Kreuzzug 1204 mit der Zerstörung des damals christlichen, allerdings oströmischen Konstantinopels endete, kann eigentlich von einer Verteidigung des Christentums als europäische Aufgabe im Osten nicht mehr gesprochen werden.
Sein antitürkisches Abenteuer endet für Papst Pius II. elendiglich. Mitte Juni 1464 schifft er sich in Ancona ein, um seinen zehn Jahre zuvor gepredigten Kreuzzug zu starten. Allein, außer einer Handvoll heruntergekommener Abenteurer will ihm niemand folgen. Am 15. August 1464 stirbt der verhinderte Kreuzfahrer Piccolomini/Papst Pius II. auf seinem Schiff auf dem Weg zwischen Venedig und Istrien. Zuvor hatte er noch eine zweite »europäische« Front aufgemacht, nämlich