Das heimliche Europa des Geistes ist, wie sein unermüdlicher Interpret, der Visionär Kaltenbrunner, nachweist, unendlich größer als die heutige Welt. „Geist ist ein Universum für sich, einerseits dem Kosmos als kleines flackerndes Flämmchen innewohnend, anderseits aber das ganze Weltall samt seinen unvorstellbaren Lichtjahren umfassend. Das meint ja auch Pascal mit seinen denkwürdigen Worten: ‚Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste in der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt. Nicht im Raum habe ich meine Würde zu suchen, sondern im Denken‘ (Pensées 347 f).“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Uneingeschränkte Bewunderung galt demnach den „Geistesriesen“, Männern wie Görres oder von Baader.
Der Rheinfranke Joseph Görres (1776–1848), ein „vielbewegter und vieles bewegender“ Kopf, als junger Mann begeisterter deutscher Jakobiner, delegiert nach Paris (1799/1800) zur Vorbereitung der Übergabe der linksrheinischen Gebiete an Frankreich, Herausgeber des später verbotenen „Roten Blattes“, erlebt sein Damaskus, als er im Nachbarland den Ausbruch der Despotie feststellen muss. „Görres ist wohl der einzige deutsche Denker, der am Modell der Französischen Revolution zu einer Analyse revolutionärer Prozesse überhaupt vorgestoßen ist, die sich mit den Werken Edmund Burkes, Alexis de Tocquevilles und Georges Sorels vergleichen läßt.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2) Ernüchtert und scharfsinnig beginnt er, der vorläufig mit der Kirche gebrochen hatte, über die Wiedergeburt des deutschen Volkes zu spekulieren. Er entwickelt eine eigene Philosophie, Ideen hinsichtlich des Lebens, des Organismus, der Geschlechtlichkeit und Zeugung wie auch der Geburt. Neuplatonische, paracelsische und theosophische Elemente bilden ein eigenwilliges Ganzes. Görres lehrt in Heidelberg, später in München, gibt den „Rheinischen Merkur“ (für Napoleon die „fünfte feindliche Großmacht“) heraus. Er schart Männer wie Joseph von Eichendorff (1788–1857), Anton Friedrich Thibaut (1772–1840), Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1778–1842) um sich und gründet die Keimzelle der jüngeren Romantik. Klar erkennt er den Verfall des Christentums. Seine Ansicht, dass auf Katholizismus und Protestantismus eine Art „drittes Christentum“, eine ecclesia spiritualis auf der Grundlage eines naturmystischen Lebensgefühls folgt, ist eine hochgemute und hoffnungsvolle Vision. Dieser wortgewaltige Feuergeist wird zum nationalen Sprachrohr der Deutschen gegen die Napoleonische Herrschaft und muss schließlich ins Straßburger Exil flüchten, wo 1821 die hochbedeutsame Schrift „Europa und die Revolution“ erscheint. 1824 kehrt er mit seiner Familie zurück zum Katholizismus und wird dessen glühender Verteidiger. Schließlich verfasst er 1837 im Kölner Kirchenstreit die Kampfschrift „Athanasius“. Seine lebenslangen mythologischen Studien finden ihren Niederschlag in dem Riesenwerk „Die christliche Mystik“, welches beinahe auf den Index verbannt worden wäre. Kaltenbrunner bescheinigt Joseph Görres, „ein Mensch mit doppelter Natur“ zu sein, der die Dämonie in der Geschichte, das finstere Reich des Abgrundes, klar erkennt. In gewisser Weise fühlt er sich ihm geistesverwandt, wie folgende Worte bezeugen:
„Görres war eine in hohem Grade rezeptive Natur. Es hat kaum eine geistige Bewegung vor ihm, keine gleichzeitige gegeben, die er nicht auf sich hätte wirken lassen. Er, der nie an einer Universität studiert hatte, war selber eine ganze Universität. Begabt mit einem nichts auslassenden Gedächtnis, hat er sich zu allem, sei es Politik, Philosophie, Mythologie, Medizin, Geschichte, Literatur, Orientalistik und Kirche, einen eigenen persönlich geprägten Reim gemacht. …
Görres wirkte nicht als Fachmann, sondern als Entdecker, Anreger, Liebhaber. Er lebte und dachte gewissermaßen essayistisch. Er war und blieb auf geniale Weise Autodidakt und Dilettant.“ („Vom Geist Europas“, Bd. 2)
Franz von Baader (1765–1841) pflegte eine Katholizität, die wenig mit der römischen Kirche gemeinsam hatte und vielfach antipapistische Kritik einschloss. Er, der ein enger Freund von Johann Michael Sailer war, empfand sich als „Böhme redivivus“. Leopold Ziegler schreibt in dem Vorwort zu seinem zweibändigen Werk „Menschwerdung“, dass Baader gläubiger Katholik, treu anhänglich den kirchlichen Lehrbegriffen, und zugleich der berufenste Adept Böhmes war, tief eingeweiht in echte Alchemie und echte Mystik. Baader überschritt bedenkenlos konfessionelle Grenzen. Seine ökumenischen Bestrebungen umfassten auch die Orthodoxie. Im Geiste religiöser Weltverantwortung verstand er sich als Vermittler zwischen Ost und West. Hineingestellt fühlte er sich in eine Urtradition, die bereits im Paradies beginnt. Kaltenbrunner resümiert: „Die vorsokratische, mittelalterliche und frühneuzeitliche Elementenlehre ist für Baader ebenso wenig abgetan wie die hebräische Esoterik mit ihren Aufschlüssen über die Chochma (Sophia), die Sephirot und den Adam Kadmon, dessen Androgynität nicht Hermaphroditentum bedeutet, sondern ganzheitlich heile, geheiligt aufgehobene, keineswegs aber vernichtete oder verworfene Geschlechtlichkeit.“ („Franz von Baader. Erotische Philosophie“) Eine sehr differenzierte und facettenreiche Darstellung des Lebens und Wirkens dieses der theozentrischen Heiligung der Natur, der Esoterik der Erde und der Ökosophie verpflichteten Denkers bietet sein Bewunderer. Nicht zuletzt ortet er bei Baader jene Geisteshaltung, die gegen die Weisheitsvergessenheit, den intellektuellen Sündenfall des ursprünglich mit der göttlichen Sophia versehenen Menschen ankämpft. So sieht er eine mystisch-theosophische Sukzession, einen spirituellen Strom abseits der Amtskirche. Begeistert berichtete Kaltenbrunner von der Begegnung mit den Baader´schen Schriften um 1960 in München. „Ich habe mich damals durch intensive Lektüre in einem solchen Ausmaß in seine Welt hineinversetzt, daß ich eine Zeitlang ganz in ihr lebte, auch die alltäglichsten Dinge und Begebenheiten mit seinen Augen, im Widerschein seiner Erleuchtungen wahrnahm“.
1988 erhielt Gerd-Klaus Kaltenbrunner den „Wolfgang Amadeus Mozart-Preis für Kulturelle Publizistik“ der Goethe-Stiftung Basel. Er, der sich mit zunehmendem Alter immer häufiger die Frage nach der Berechtigung seiner Texte stellte und gesprächsweise betonte, dass ein Autor für jedes Wort, welches er veröffentlicht, verantwortlich sei, wurde vor allem auch hinsichtlich seiner facettenreichen Darstellungen immer kritischer. Es war ihm bewusst, dass er selbst in offenkundigen Einseitigkeiten, ja in Irrtümern, verborgene Wahrheitskeime entdeckt hatte. Ein historischer Gerechtigkeitssinn veranlasste ihn zu ausgewogenen, oft auch unorthodoxen Urteilen. Stets betonte er, dass nur derjenige, welcher der Dahingeschiedenen gedenkt, seine eigene Geschichte gewinne. Der Text zur Preisverleihung würdigt seine Haltung: „Gegen alle modisch vergänglichen Denkweisen bekennt er sich in seinen Werken zu einem Traditionalismus, der das Verhältnis der Bewahrung und Wandel als einen schöpferischen, dialektischen Prozess versteht. Hoffnung für Gegenwart und Zukunft einer Welt, der die Selbstzerstörung droht, setzt er in einen Fortschritt, der sich auf dem Grunde gültiger Überlieferung entfaltet.“
Dem heimlichen Europa des Geistes sind drei Gestalten verpflichtet, deren konservative Wahrheiten zeitübergreifend wirken.
Der Ire Edmund Burke (1729–1797) verfasst 1790, also zu einer Zeit, in der die Französische Revolution von fast allen tonangebenden Europäern frenetisch begrüßt wurde, seine „Reflections“ („Betrachtungen über die Französische Revolution“). Dieses Buch gilt auch heute noch als Bibel der Konservativen. Hellsichtig arbeitet der Autor die immer wiederkehrenden Grundzüge extremer Umwälzungen heraus. Er prognostiziert illusionslos eine blutige Schreckensherrschaft, Chaos, Terror und die entfesselte Liberalisierung, die in gnadenlose Tyrannei umschlägt. Das Grundmuster aller späteren Revolutionen ist bei ihm vorgezeichnet: die „philosophische Revolution“, die allen politischen Systemveränderungen