„Wir werden nichts anderes tun, als sie wieder freizulassen.“ Die Mutter hob das Glas an.
Schnell legte der Vater die Hand auf das Gefäß und drückte es wieder hinunter „Bist du verrückt? Wer fängt schon eine Elfe? Das ist ganz was Besonderes!“
„Ja, sie ist was Besonderes und deshalb sollten wir sie frei lassen. Seht nur, wie sie die Flügel hängen lässt. Und sie wird ganz grau.“
In diesem Moment kippte der Elfe um und rührte sich nicht mehr. „Sie hat keine Luft mehr bekommen!“ Anne fegte die Hände ihrer Eltern vom Glas und drehte es schnell um „Quatsch, so schnell kann sie die Luft gar nicht verbraucht haben.“
Ihr Bruder griff nach der Elfe und legte sie sich auf seine flache Hand. „Sei vorsichtig, die Flügel sehen ziemlich zerbrechlich aus.“
„Sie sind noch dran, oder?“ Er warf seiner Mutter einen bösen Blick zu.
„Seht nur, sie wird wieder etwas durchsichtiger.“
Die Elfe versuchte einige kurze Schläge mit den Flügeln. Die brachten sie von der Handfläche des Jungen nah an einer Kerzenflamme vorbei bis in die Mitte des Adventkranzes. Die Kinder atmeten auf.
„Lasst sie einfach in Ruhe. Für euch ist nun Zubettgehzeit.“
„Du schickst die Kinder ins Bett, wo wir eine Elfe im Haus haben, das kann doch nicht dein Ernst sein!“
Die Elfe war so müde von dem aufregenden Tag, dass sie sich in eine der roten Schleifen einwickelte, prompt einschlief und verschwand.
„Wo ist eine Elfe in diesem Haus?“, fragte die Mutter verschmitzt.
Wenn Elfen einschlafen, wachen sie jedes Mal Zuhause wieder auf. Deshalb dauert der Ausflug einer Elfe nur so lange, wie sie wach bleiben kann.
Silke Höpers ist 37 und von Beruf Sekretärin. Sie lebt in einer Kleinstadt an der holländischen Grenze. Der zeitintensive Beruf, Haus und Garten lassen ihr wenig Zeit zum Schreiben. Aber wenn sie schreibt, dann mit allen Sinnen. Dabei können sich die Themen am direkten Zeitgeschehen orientieren oder einfach nur ihrer Fantasie entspringen.
*
Der Stern, der uns führt
Dicht wirbelten weiße Flocken vom dämmrigen Himmel. Karin versuchte, mit den Augen die Reise einer einzelnen im grau-weißen Durcheinander zu verfolgen, aber nur zu bald verlor sie sie aus den Augen. Vielleicht hatte sich ihre Flocke zu denen gesellt, die sich auf den Dächern der Buden und Marktstände niederließen. Vielleicht hüllte sie mit vielen anderen die gleichmäßig gebundenen Kränze winter-weihnachtlich ein oder vielleicht schmolz sie gerade auf einem glücklich glühenden Gesicht. Florian, ihr älterer Bruder, zog sie an der Hand weiter.
„Komm, träum nicht“, murmelte er ein wenig ungeduldig, „wir brauchen noch ein Geschenk für Mami!“ Karin konnte nicht verstehen, dass ihr Bruder den Weihnachtsmarkt nicht so sehr genoss wie sie, und maulte: „Immer hast du es so eilig! So finden wir nie das Passende!“ Dabei gab es doch so viel zu bestaunen: Lebkuchenhäuschen mit winzigen Marzipanfiguren, gleich daneben Krippen aus Holz und Moos, mit bunten Motiven bemalte Glaskugeln in der nächsten Bude.
Vor einem langen Tisch mit Kristallen blieb ihr Bruder nur stehen, weil Karin ihn heftig zurückhielt. „Das wär doch was für Mama! Ein schöner Stein, den sie an einem dünnen Lederband um den Hals tragen kann!“ Der Mann hinter dem Tisch sah auf die beiden Kinder herab. „Sucht ihr einen bestimmten Stein? Einen Amethyst vielleicht? Hier der blaue, das ist ein Aquamarin, der hier ist ein Schneeflockenobsidian und der …“ Karin konnte gar nicht mehr zuhören. Der kleine, schwarze Stein, der auf einem Filztuch vor ihr lag, sah aus, als hätte er einige der herabwirbelnden Schneeflocken verschluckt. Zusätzlich war er in Herzform geschliffen. Karin fragte den Verkäufer, ob sie ihn in die Hand nehmen dürfe. „Steine sucht man immer mit den Händen aus. Man denkt ganz fest an denjenigen, dem man einen Stein schenken möchte, greift dann nach einem und befühlt ihn. Nur so erfährt man, ob der Kristall passt oder nicht.“
Mit geschlossenen Augen betastete Karin das Steinherz. Ihre Finger folgten jeder Rundung, sie lasen die Form und fühlten die Wärme, die von ihnen auf den Kristall überging. „Was sagst du, Florian? Nehmen wir ihn für Mama?“, fragte sie, als sie die Augen wieder öffnete.
Da Florian auch einverstanden war, wickelte der Verkäufer das Steinherz sorgfältig in Papier ein und reichte es ihnen. Florian war erleichtert und wandte sich zum Gehen. Seinen großen Schritten konnte Karin kaum folgen. Er zog sie aus dem Gewühl der Menschen in eine ruhigere Gasse. Sie liefen an den Stufen zur Kirche vorbei. Jeden Tag kamen sie hierher, ihr Schulweg führte hier vorbei. Aber diesmal war etwas anders.
Sie blieb stehen und starrte auf die Stufen, auf denen unbeweglich ein Weihnachtsmann saß. Wie eine versteinerte Figur. Was hatte er hier zu tun? Warum hielt er sich nicht dort auf, wo man ihn erwartete: auf dem Weihnachtsmarkt? Florian machte neugierig ein paar Schritte auf die reglose Gestalt zu. Unter der roten, mit weißem Pelz verbrämten Mütze sah Florian nur einen Teil eines alten Gesichtes. In diesem Moment richtete sich der Mann auf, so, als ob er geschlafen hätte und aus dem Schlaf aufgeschreckt wäre.
„Ist etwas mit dir?“, fragte Karin, die auch näher gekommen war.
„Was machst du hier?“, fragte Florian. Der Weihnachtsmann sah die Kinder eine Weile an und schob sich dann die Mütze etwas aus dem Gesicht. Der Bart, der beinahe das ganze Gesicht verdeckte, war nicht weiß, wie man es von Weihnachtsmännern gewöhnt war, sondern grau und struppig. Auch seine Kleidung ließ etwas zu wünschen übrig. Insgesamt wirkte er heruntergekommen. Und müde. Als ob er vom ganzen Getriebe die Nase voll hätte.
Seine dunklen Augen aber blickten wach und freundlich auf die Kinder herab. „Nein, und ich beobachte“, sagte er mit einem schelmischen Unterton. Karin sah ihn verständnislos an. „Nun, so viele Fragen auf einmal. Nein, mit mir ist nichts“, erklärte er. „Und auf deine Frage, Florian: Ich raste hier ein wenig. Ich ruhe mich aus von den vielen stillen, heiligen Nächten und den grünen Tannenbäumen, die tausendfach besungen in den Ohren schmerzen. Ich kann das alles einfach nicht mehr hören! So viel Weihnachten wird mir zu viel!“
Karin setzte sich neben den Weihnachtsmann auf die Stufe. „Aber ich finde es trotzdem schön, dass hier alles so weihnachtlich geschmückt ist. Und wir singen in der Schule ja auch die alten Weihnachtslieder – und ein paar neue, englische, weil sich das einige immer wünschen.“
Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf. „Das ist doch ganz was anderes“, meinte er. „Schaut euch doch um: Wen interessiert hier Weihnachten? Hier hat doch gar keiner Zeit für so ein großes Fest! Was zählt, ist das Geschäft. Leider ist es so!“
Nun zog er seinen Sack hervor, den die Kinder erst jetzt sahen, weil er ihn als Rückenlehne benützt hatte. Umständlich band er ihn auf, kramte eine Weile darin herum und brachte dann einen kleinen Stern zutage. Er glitzerte geheimnisvoll, als er ihn den Kindern reichte. „Hier, das ist mein Geschenk an euch. Ihr müsst mir aber versprechen, dass euch an Weihnachten nicht nur die Geschenke interessieren. Schaut diesen Stern an: Ich habe ihn vom Sternenhimmel mitgebracht.“
Während der Mann weitersprach, sah Florian seine Schwester mit einem merkwürdigen Blick an, so, als ob er ihr zeigen wollte, dass er den Mann für verrückt hielt. „Dort oben ist er gestanden!“ Damit zeigte er durch das Schneetreiben auf eine klare Stelle am Himmel, an der jetzt ein paar Sterne zu sehen waren. „Seht ihr den hell blinkenden? Gleich daneben gehört der hier hin. Ist er nicht schön?“ Die Kinder konnten nur wortlos nicken. „Er gehört euch, wenn ihr bereit seid, zur Krippe zu kommen. Sie ist der Mittelpunkt von Weihnachten. Nicht die Geschenke. Gut, die gehören auch dazu. Aber sie sind eigentlich gar nicht wichtig. Wichtig ist, dass die Menschen immer wieder den Stern suchen, der sie führt. So wie die Hirten. Nicht nur zu Weihnachten.“
Florian griff nach dem Stern und betrachtete