Die anderen Geschenke beachtete Gabi kaum. Sie hielt den ganzen Abend ihr Reh in der Hand und schaute es mit leuchtenden Augen an. Kommentarlos drückte ich Anderl die Gitarre in die Hand. Wir sangen zu Anderls Gitarrenbegleitung die bekanntesten Weihnachtslieder. Anschließend las ich noch „Die heilige Nacht“ von Ludwig Thoma vor. Bei der Stelle „Kommt die heilige Nacht und der Wald ist aufg‘wacht, schau‘n die Hasen und Reh‘, schau‘n die Hirsch‘ übern Schnee“ blinzelte Anderl Gabi zu. Als ich die Geschichte beendet hatte, war Gabi müde und ging mit ihrem Reh in der Hand ins Bett. Wir Erwachsenen unterhielten uns noch.
Am ersten Weihnachtsfeiertag schien mir im Bett die Sonne ins Gesicht und weckte mich sanft. Gabi und Anderl waren schon in der Stube. Gabi bekam im Abstand von jeweils einer halben Minute einen Lachkrampf nach dem anderen. Anderl war scheinbar wieder in seiner Superform. Der Frühstückstisch war schon gedeckt, das Feuer nachgeschürt, und Anderl hatte den Weg zur Forststraße bereits geräumt. Nach einem kräftigen Frühstück gingen wir alle einige Stunden im Neuschnee spazieren. Der Himmel war herrlich blau, und die Sonne verzauberte mit ihrem hellen Glanz die ganze Natur. Es war wie im Bilderbuch. Gabi hatte natürlich ihr Reh dabei, das sie von Zeit zu Zeit ansah und auch mit ihm sprach. Anschließend lud uns Anderl in seine Hütte ein. Kurz bevor es dunkel wurde, verabschiedeten wir uns vom Anderl, denn er wollte jetzt wieder allein sein und sich schonen. Wir gingen zu unserer Hütte zurück.
Der zweite Weihnachtsfeiertag bestand hauptsächlich aus Skifahren. Drei Monate vergingen. Mich erreichte die traurige Nachricht, dass Anderl einsam in seiner Hütte gestorben war. Es verstrichen zwanzig Jahre. Gabi wohnte nicht mehr bei uns. Eines Tages besuchte ich sie. Da öffnete sie einen Schrank, zeigte mir das geschnitzte Reh und fragte mich: „Papa, kannst du dich noch erinnern, wer mir das Reh geschenkt hat?“ „Aber natürlich, Gabi“, antwortete ich, „du hast es als Kind vom Anderl bekommen.“ Gabi meinte nachdenklich: „Ich werde den Anderl nie vergessen. Er war ein guter Mensch. Solange ich lebe, wird er in meiner Erinnerung weiterleben.“
Hermann Bauer, Jahrgang 1951, lebt in seiner Geburtsstadt München und schreibt seit vielen Jahren Kurzgeschichten und Lyrik.
*
Die kleine Schneeelfe
„Es beginnt zu schneien!“ Die kleine Schneeelfe flatterte mit ihren Flügeln und umschwirrte ihren Vater. „Dann ist heute dein großer Tag gekommen.“ Ihr Vater stand von seiner Wolke auf und die Sonne, die hier über den Wolken immer schien, leuchtete durch ihn hindurch. Er kniete sich vor ein Loch in den Wolken und sah hinunter. Die weißen Flocken rieselten langsam der Erde entgegen.
Er nahm drei Stränge von der Wolke ab und flocht sie zu einem Zaumzeug zusammen „Such dir eine Schneeflocke aus, ich fang sie für dich ein.“
„Die dort mit den schönen Zacken, die bläulich schimmern.“
Der Vater fing die Flocke ein. Die kleine Elfe hüpfte von einem Bein auf das andere, dass die Wolkenfetzen davon stoben. Der Vater setzte die Elfe auf den sechszackigen Kristall, drückte ihr das Reitgeschirr in die Hand und gab der Schneeflocke einen Schubs. Sie fiel durch das Loch in der Wolkendecke. „Viel Vergnügen bei deinem ersten Ausflug und verflieg dich nicht!“, rief er seiner Tochter hinterher.
Die Schneeelfe jauchzte vor Freude. Der Wind griff mit seinen starken Händen nach ihr und wehte ihr das silberne Haar ins Gesicht. Mal blies der Wind sie nach rechts, dann ging es wieder steil der Erde entgegen, bis die Schneeflocke von einer besonders heftigen Böe wieder hinaufgetragen wurde. „Das ist die falsche Richtung. Bitte trage mich hinunter zur Erde.“ Aber die Schneeflocke konnte gegen den starken Sturm, der einsetzte, nichts ausrichten. Sie wurde umhergewirbelt und die Elfe war froh, sich am Zaumzeug festhalten zu können. „Jetzt sind wir wieder über den Wolken.“ Enttäuscht sah sie sich um.
Da erkannte sie, dass sie der Wind weit von Zuhause fort über die Wolken geblasen hatte. Vor ihr stand ein Schloss, ganz aus Eis und Schnee. Die Türme stachen wie spitze weiße Dolche in den blauen Himmel. Die Flocke, auf der die Elfe ritt, hielt direkt auf ein eisiges Fenster in einem der Türme zu. Auf dem Fenstersims verschmolz die Flocke mit dem dort liegenden Schnee. Die Elfe nahm das Zaumzeug in die Hand und schlüpfte durch den Spalt des angelehnten Fensters in das Schloss. Eiskristalle wanden sich wie Schlingpflanzen um eisige Säulen herum. In der Mitte der Halle stand erhöht ein Thron aus Kristall. Die zarten Schritte der Elfe auf der glatten Eisfläche hallten im Raum wider. Vor den acht breiten Stufen, die zum Thron führten, hielt sie an.
„Komm nur herauf, meine Kleine.“ Erschrocken schwirrte die Elfe zurück. Auf dem Thron saß jemand. Er schien aus Eis gemacht.
„Wer bist du?“
„Ich bin der Eiskönig. Du solltest mich eigentlich kennen, ich bin dein König!“ Der Regent lachte so laut, dass das ganze Schloss zu klirren begann und die Elfe Angst bekam, das Gebäude könne einstürzen.
„Oh, ich habe einen König, das wusste ich nicht.“ Sie sah sich verstohlen um. An den Wänden saßen erstarrte Figuren auf dem Boden. „Wer sind die und warum sind sie aus Eis?“
„Ach die sind unwichtig! Setz dich hier neben mich. Ich habe ein Eis für dich.“ Der König sah sie aus schwarzen Augen an und beugte sich ihr mit einem blauen Eis in der Hand entgegen. Sie überlegte. Alle Eisfiguren hatten ein blaues Eis in der Hand. „Ich möchte kein Eis und ich bleibe lieber stehen, nachher frieren meine Flügel noch fest.“
„Was, du wagst es, deinem König zu widersprechen?“ Er stand auf und trat die erste Stufe hinunter auf die Elfe zu. Erschrocken drehte sie sich um und sauste so schnell ihre fast steif gefrorenen Flügel es erlaubten zur Saaltür hinaus und über die riesige Eistreppe herunter in die düstere Eingangshalle. Der König stapfte ihr die Stufen der Freitreppe hinterher.
Die Elfe rüttelte am Eingangstor. Es war verschlossen. Aber im unteren Drittel der Tür befand sich eine kleine Klappe für einen Wolkenhund. Die Elfe hob die Eisplatte vor dem Durchlass an und schlüpfte hindurch. Hinter sich hörte sie die Faust des Königs gegen die Tür schlagen. Das Eis knackte unter dem Hieb, brach aber nicht. Die Tür war zugefroren, der König in seinem Schloss gefangen, die Elfe jedoch war frei.
Es schneite noch immer und die Elfe fing geschickt eine Schneeflocke ein. Ein kräftiger Windstoß brachte sie von dem Schloss fort. Bald säuselte der Wind nur noch schwach und so schwebte sie ruhig hinunter.
Direkt in einem Kamin landete sie. Langsam glitt sie durch die Dunkelheit des kalten Schornsteins in das Haus der Menschen. Die Elfe sprang von der auf den Holzscheiten gelandeten Schneeflocke hinunter und versteckte sich hinter der neben dem Kamin hängenden Ascheschaufel. Mit großen Augen sah sie zu dem Holztisch in der Mitte des Raumes hin. Auf ihm lag ein Kranz aus Tannengrün, geschmückt mit roten Schleifen und golden angemalten Tannenzapfen. Vier dicke rote Kerzen leuchteten um die Wette. Am Tisch saß eine Familie und sang „Wir sagen euch an den lieben Advent“. Verzückt trat sie einen Schritt hinter der Schaufel hervor. Da sprang ein Hund bellend unter dem Tisch hervor. Erschreckt flog die Elfe auf.
„Wotan, was soll das?“ Die Familie hatte zu singen aufgehört und sah dem Hund bei seiner wilden Jagd durch das Esszimmer zu. Die Schlappohren flogen mit jedem Sprung in die Luft wie die Zöpfe eines Mädchens beim Seilhüpfen. „Da glitzert was in der Luft!“ Johannes sprang von seinem Stuhl auf und rannte dem Hund hinterher. Der Vater ging in die Küche und kam mit einem Käscher und Einmachglas wieder. Der Mann suchte nach dem flirrenden Ding und schwang den Käscher danach. Er griff in das Netz, holte die Elfe heraus, stellte sie auf den Esstisch und stülpte das Einmachglas darüber.
„Was ist das?“ Anne und Johannes stießen mit den Köpfen zusammen, als