Abb. A.3: Werte- und Entwicklungsquadrate für den Wert der Selbstverwirklichung (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schulz von Thun, 2018c: 56-59)
Der Heimatwert der Selbstverwirklichung ist also ein Konstrukt, das sich in mindestens drei verschiedene Aspekte untergliedern lässt (
• Der erste Aspekt der Selbstverwirklichung ist der Eigensinn. Selbstverwirklichung wird als »kaum verbrämter egoistischer Zug« (Schulz von Thun, 2018c: 56) identifiziert und mit »Vergnügungssucht und Pflichtvergessenheit« (Schulz von Thun, 2018c: 57) gleichgesetzt. Es erfolgt ein Appell an das soziale Empfinden des Mitarbeiters. Dieser Appell soll dem Mitarbeiter klarmachen, dass auch ein Kollege, der vielleicht nicht in der Lage ist, für sich selbst einzustehen, Rücksichtnahme beanspruchen kann. Das wird in Wert 2a, dem Schwesterwert ›Gemeinschaftssinn‹, ausgedrückt. Dem Gemeinschaftssinn als konträrer Gegensatz gegenüber steht die selbstsüchtige Egozentrik (Unwert 3a), die sich Bahn zu brechen droht, wenn der Eigensinn übertrieben wird. Wird der Gemeinschaftssinn wiederum übertrieben, dann kommt es zu selbstlosem Verhalten (Unwert 4a) des Mitarbeiters. Das ist eine Übertreibung, die den Gemeinschaftssinn entwertet und impliziert, dass der Mitarbeiter sich aufgibt, anstatt sich selbst zu verwirklichen.
• Der zweite Aspekt der Selbstverwirklichung ist die Sinnsuche (Wert 1b). Damit beschäftigt sich das Werte- und Entwicklungsquadrat im mittleren Bereich der Abbildung A.3. E. Viktor Frankl geht davon aus, dass ein Mensch nur dann ganz er selbst sein kann, wenn er sich im Dienst an einer Sache befindet. Demnach muss der Mitarbeiter sich also quasi selbst vergessen, um sich selbst zu verwirklichen. (vgl. Frankl, 1981: 38) Diese vollkommene Hingabe an eine Aufgabe drückt sich im Schwesterwert Pflichtgefühl (Wert 2b) aus. Ein dermaßen interpretiertes Pflichtgefühl würde laut Friedemann Schulz von Thun heute vielfach dazu führen, dass der Mitarbeiter die Sinnlosigkeit oder gar (im Extremfall) die Sinnwidrigkeit der eigenen Arbeit erkennen würde, was wiederum zur Selbstentfremdung (Unwert 4b) führen würde (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 57).
• Als dritten Aspekt der Selbstverwirklichung wird die Autonomie betrachtet. Ein Mitarbeiter stellt z. B. fest, dass er die eigene Entwicklung bisher zugunsten der Arbeit im Unternehmen zurückgestellt hat. Beispielsweise hat der Mitarbeiter eine schon lange angestrebte Weiterbildung immer wieder verschoben, weil er dauerhaft zu viele (vermeintlich wichtige) Routinetätigkeiten zu erledigen hatte. Die Hingabe des Mitarbeiters an das Unternehmen und seine damit einhergehende Bindung (Schwesterwert 2c) hat in dem Fall zu einer entwertenden Übertreibung geführt und eine symbiotische Verschmelzung mit dem Unternehmen bewirkt (Unwert 4c). Um dem Wert der Selbstverwirklichung näher zu kommen, ist es notwendig, den Mitarbeiter aus der sich selbst blockierenden Abhängigkeit zu lösen.
Jedes Unternehmen strebt an, kompetente Mitarbeiter an sich zu binden. Gerade der dritte genannte Aspekt hat unter dem Oberbegriff der Personalbindung deshalb im Personalmanagement eine große Bedeutung. Einem Unternehmen, das sich mit der Werteentwicklung seiner Mitarbeiter aktiv auseinandersetzt, wird das besser gelingen als einem Unternehmen, in dem die Werte der Mitarbeiter nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang beachtet werden.
Der so entwickelte Wertekanon sollte mit den im Unternehmen propagierten und praktizierten Werten (= der Unternehmenskultur) abgeglichen werden, so dass ein im Unternehmen insgesamt konsistentes Wertesystem entstehen kann. Dieses Wertesystem ist die Grundlage erfolgreicher Personalarbeit im Unternehmen.
2 Personalbeschaffung und Personalentwicklung
Bis etwa 2035 wird die Generation der Baby-Boomer (= Personen, die in den Jahren 1950 bis 1964 geboren wurden) aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Ohne Digitalisierung und Automatisierung können manche Branchen den dadurch entstehenden Arbeitskräftemangel nicht ausgleichen. Der Arbeitgebermarkt wird sich zu einem Arbeitnehmermarkt verändern, indem sich die Arbeitnehmer aussuchen können, bei welchem Unternehmen sie ihre Arbeitsleistung einsetzen. (vgl. Jánszky/Abicht, 2018: 114)
Bereits heute hat sich die Personalbeschaffung im Vergleich zu früher stark verändert. Thomas Vollmoeller, CEO von XING, drückt das so aus:
»Klassische Stellenanzeigen sind ein Modell von gestern. Wenn du heute eine Personalabteilung bist, musst du selber erstmal verstehen, wie der Job aussieht und was du für Leute suchst. Dann musst du direkt in Kontakt mit ihnen gehen. (…) Der große Kampf um Talente beginnt gerade erst.« (Gardt, 2019).
Wie die Unternehmen diesen Kampf um die Talente führen, wird entscheidend für deren zukünftigen Erfolg sein. Zwei wichtige Themen sind in diesem Zusammenhang die Suche nach kompetenten Mitarbeitern und die Personalentwicklung.
2.1 Kompetente Mitarbeiter gesucht!
Der Hauptfokus der Personalbeschaffungsaktivitäten wird in Zukunft darauf liegen, dass Unternehmen ihren Mitarbeitern persönliche Herausforderungen und berufliche Weiterentwicklungsmöglichkeiten bieten. Mobile, flexiblere Arbeit wird zum Normalfall. Arbeit, die Spaß macht und Sinn stiftet. Ansätze dazu werden unter dem Stichwort »New Work« erprobt. Die Arbeit in ihren Strukturen wird fluide; Selbstorganisation und flexible Teams stehen an oberster Stelle. Kurzum: Kompetente Mitarbeiter sind gesucht! Kompetenzen sind hier definiert als eine Kombination aus Wissen, Fähigkeiten und Einstellungen, die an das jeweilige Umfeld angepasst sind. Kompetenzen zu entwickeln wird für beide Seiten zunehmend wichtig; für den Arbeitgeber, der Angebote zur Entwicklung bereitstellt und den Arbeitnehmer, der sich in seinen Kompetenzen zunehmend entfalten kann.
Ein häufig beschrittener Lösungsweg in der Personalbeschaffung besteht in der Abkehr von speziellen Kriterienlisten und der Definition von allgemeingültigen Schlüsselkompetenzen. Schlüsselkompetenzen stellen dabei diejenigen Kompetenzen dar, die alle Menschen für ihre persönliche Entfaltung, soziale Integration, Bürgersinn und Beschäftigung benötigen. Das sind Fähigkeiten, die nicht an spezielle Arbeitsprozesse gekoppelt sind.
Aus den Empfehlungen des Europäischen Parlaments lassen sich acht Schlüsselkompetenzen ableiten, die wichtige Komponenten im lebenslangen Lernprozess darstellen und einen gut anwendbaren Referenzrahmen bilden. Eine besonders wichtige Kompetenz in diesem Referenzrahmen ist die Sprachkompetenz, die gleich doppelte Geltung gewinnt, und zwar in der muttersprachlichen Kompetenz und in der fremdsprachlichen Kompetenz. Daneben spielen auch die mathematische Kompetenz und die grundlegende naturwissenschaftlich-technische Kompetenz eine wichtige Rolle. Der gekonnte Umgang mit Informationstechnologien schlägt sich nieder in der Computerkompetenz. Um sich die verschiedenen bereits genannten Kompetenzen überhaupt erst aneignen zu können, bedarf es der Lernkompetenz. Das Europäische Parlament geht darüber hinaus auf die herausragende Bedeutung der Sozialkompetenz und der Bürgerkompetenz ein und erhebt die Eigeninitiative und die unternehmerische Kompetenz ebenfalls zu Schlüsselkompetenzen. Und last but not least werden auch Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit zu Schlüsselkompetenzen erklärt. (vgl. Europäisches Parlament, 2006: 13)
Die Forderung nach einem hochintelligenten, sozial kompetenten Analytiker, sprachbegabt, mobil, zuverlässig, kreativ und akribisch, ist so üblich wie illusionär. Verständlich ist, dass in einem globalen, dynamischen und komplexen Markt Unternehmen versuchen, Arbeitnehmer zu finden, die sich möglichst flexibel immer wieder auf neue Anforderungen einstellen können. Dazu gehören die erforderlichen sprachlichen und mathematischen Kompetenzen ebenso, wie der Umgang mit neuen Technologien. Gleichwohl wird es auch in Zukunft einen Unterschied machen, welche Spezialkenntnisse gefordert sind. Darüber hinaus wird der Ruf nach einem sozial-kulturell kompetenten Mitarbeiter mit unternehmerischer Weitsicht und Entscheidungsfreude lauter. Diese Kompetenzen ermöglichen, das Gelernte flexibel anzuwenden, neue Handlungsalternativen zu erproben und zu integrieren, neu gelernte Fähigkeiten mit alten zu verknüpfen und das eigene Handeln und Verhalten zu reflektieren. Die Beschäftigungsfähigkeit und die Handlungsfähigkeit eines Mitarbeiters stehen somit auf vier Kompetenzpfeilern. Die ersten drei Kompetenzpfeiler sind:
• Sozialkompetenz,