Beispiel zum »Ripple Effect«
Der Bereichsleiter macht einen Teamleiter in einem Feedbackgespräch regelrecht »zur Minna«. Der Teamleiter gibt die so in ihm entstandenen sehr negativen Emotionen im darauffolgenden Teamleiterkreis direkt an seine Teamleiterkollegen weiter. Die wiederum sind nun ebenfalls negativ emotional aufgeladen. Einer der Teamleiter hat im Anschluss einen wichtigen Kundentermin. Ein anderer Teamleiter führt mit einem seiner Mitarbeiter ein am Vortag angesetztes konstruktiv-kritisches Feedbackgespräch. Und der dritte Teamleiter geht mit einem Lieferanten Mittagessen. Alle drei Gespräche verlaufen nicht so positiv wie geplant. Es ist unschwer zu erraten, warum das so ist. (in Anlehnung an ein Beispiel in Rose, 2019a: 108)
Das Beispiel macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Führungskräfte achtsam mit ihren Mitarbeitern umgehen. Achtsamkeit ist ein Wert, der es der Führungskraft ermöglicht, den »Ripple Effect« bei sich selbst aufzuhalten. Eine achtsame Führungskraft wird in der Lage sein, die eigenen Emotionen soweit zu regulieren, dass sich die negativen Emotionen anderer (sei es aus höheren Führungsebenen oder auch aus der gleichen Hierarchieebene) nicht ungehindert im Unternehmen weiter verbreiten können. (vgl. Rose, 2019a: 108)
1.2.2 Werte definieren mit dem Werte- und Entwicklungsquadrat
Die individuellen Werte von verschiedenen Mitarbeitern können sich sehr stark voneinander unterscheiden. Aber bestimmte Werte tendieren dazu, universell gültig zu sein, z. B. Achtsamkeit, Fürsorge, Hilfsbereitschaft, Genügsamkeit und den Schwächeren zu helfen. Die Verknüpfung der eigenen Arbeit mit solchen positiven Werten führt dazu, dass die Sinnhaftigkeit der Arbeit für die Mitarbeiter zunimmt (vgl. Cameron, 2012: 95).
Wird Achtsamkeit also als wichtiger Wert definiert, so kommt es nicht nur darauf an, den Wert an sich festzuhalten. Vielmehr sollten in turnusmäßigen Abständen grundsätzlich bestehende Werte hinterfragt und neue Werte definiert und damit der eigene Wertekanon festgelegt werden. Ein Modell, das es Führungskräften und Mitarbeitern ermöglicht, genau das zu tun, ist das Werte- und Entwicklungsquadrat, das maßgeblich auf Friedemann Schulz von Thun zurückgeht.
Exkurs zur Bedeutung von Werten im wissenschaftlichen Arbeiten, dargestellt anhand der Entstehungsgeschichte des Werte- und Entwicklungsquadrats.
Die Entstehungsgeschichte des Werte- und Entwicklungsquadrats ist ein Paradebeispiel für die Bedeutung der Genauigkeit des Zitierens in der wissenschaftlichen Arbeit. Dass das Wertequadrat zum heute weltweit bekannten Werte- und Entwicklungsquadrat wurde, ist Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun zu verdanken. In den 1980er Jahren fiel ihm »zufällig (wirklich zufällig!)« (Schulz von Thun, 2018b: 1) in einer Bibliothek ein Nachdruck der »Charakterologie« von Paul Helwig in die Hände, er blätterte darin herum, entdeckte das Wertequadrat und begann über dessen Implikationen und mögliche Formen der Weiterentwicklung nachzudenken. Das Ergebnis der Überlegungen von Friedemann Schulz von Thun ist das Werte- und Entwicklungsquadrat. Ohne die theoretischen Vorarbeiten von Helwig hätte Friedemann Schulz von Thun das Werte- und Entwicklungsquadrat nicht in der heute bekannten Form entwickeln können.
Die obigen Ausführungen lassen darauf schließen, dass das Wertequadrat von Paul Helwig erdacht wurde. Korrekt?
Nein, nicht ganz. Nicolai Hartmann hat in seiner »Ethik« (Erstauflage 1926, hier Hartmann, 1962) die aristotelische Tugendlehre weiterentwickelt, indem er das Spannungsverhältnis zwischen zwei positiven Werten anhand einer sog. Wertesynthese verdeutlicht. Diesen Denkansatz hat Paul Helwig, ein Doktorand Hartmanns, in seiner »Charakterologie« (Helwig, 1936) weiter ausformuliert, mit praktischen Beispielen angereichert und anschaulich dargestellt. Allerdings unterließ es Helwig, sich auf die von Hartmann angestellten Gedankengänge zu beziehen, sondern stellte den Ansatz als seinen eigenen dar. (vgl. Schulz von Thun, 2018b: 2) Genaue wissenschaftliche Arbeit erfordert es aber, die Primärquellen (in dem Fall Hartmanns Werk) zu benennen. Das ist ein grundlegender, allgemeingültiger Wert, den alle Wissenschaftler berücksichtigen sollten. Warum Helwig das nicht getan hat, wird auf ewig sein Geheimnis bleiben (vgl. Schulz von Thun, 2018b: 7).
Hartmann bezeichnete seinen Ansatz als »Viereck der Wertesynthese« und Helwig schreibt dann von »der ›Vierheit‹ aller Wertebegriffe« (Schulz von Thun, 2018b: 4). Den Begriff Wertequadrat benutzte Helwig erstmalig 1948 in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift PSYCHE (vgl. Helwig, 1948: 121 ff). Helwig hat also den Begriff »Wertequadrat« geprägt, das dahinter liegende theoretische Modell aber nicht alleine erdacht, sondern sich der grundlegenden Gedankengänge von Hartmann bedient.
Demnach gebührt drei Wissenschaftlern Kredit für die Entwicklung des Werte- und Entwicklungsquadrats: Nicolai Hartmann, Paul Helwig und Friedemann Schulz von Thun.
Im Werte- und Entwicklungsquadrat wird angenommen, dass jedem Wert ein positiver Schwesterwert gegenübersteht. Der Heimatwert und der Schwesterwert befinden sich im Idealfall in einer Balance. Alle Führungskräfte und Mitarbeiter bewegen sich mit den ihnen wichtigen Werten innerhalb des Werte- und Entwicklungsquadrats. (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 43) (
Den Heimatwert und damit den Ausgangspunkt des Werte- und Entwicklungsquadrats stellt der in Abbildung A.2 mit der Zahl 1 gekennzeichnete grundlegende Wert dar. Direkt neben diesem Heimatwert befindet sich der sog. Schwesterwert. Der Schwesterwert ist immer ein positiver Wert, der dem grundlegenden Heimatwert gegenübersteht. In Abbildung A.2 ist der Schwesterwert mit der Zahl 2 gekennzeichnet. Zwischen dem grundlegenden
Abb. A.2: Beziehungen zwischen den 4 Polen des Werte- und Entwicklungsquadrats (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Schulz von Thun, 2018c: 45)
Heimatwert und dem gegenüberliegenden Schwesterwert besteht ein positives Spannungsverhältnis. Das bedeutet, dass beide Werte sich die Waage halten und in Balance bleiben sollten. Um dieses notwendige Gleichgewicht zwischen den beiden Werten zu erreichen, muss anerkannt werden, dass zu viel von etwas Gutem etwas Schlechtes auslösen kann. Wie bei allem ist es also auch bei Werten entscheidend, die richtige Dosis zu finden. (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 44)
Beide grundsätzlich positiv besetzten Werte werden bei einer entwertenden Übertreibung ernsthaft bedroht (vgl. Schulz von Thun, 2018c: 44). Die auf den Heimatwert bezogene entwertende Übertreibung führt zum mit der Zahl 3 gekennzeichneten Unwert. Der Unwert 3 stellt einen konträren Gegensatz zum Schwesterwert dar. Diese Beziehung wird durch die vertikale Verbindungslinie zwischen dem Schwesterwert und dem Unwert 3 dargestellt.
Die auf den Schwesterwert bezogene entwertende Übertreibung wiederum führt zu dem mit der Zahl 4 gekennzeichneten Unwert. Der Unwert 4 stellt dementsprechend einen konträren Gegensatz zum Heimatwert dar. Diese Beziehung wird durch die vertikale Verbindungslinie zwischen dem Heimatwert und dem Unwert 4 dargestellt.
Soweit, so abstrakt. Die Zusammenhänge lassen sich am besten an einem konkreten Heimatwert veranschaulichen. Dabei ist folgendes besonders zu beachten: Jeder Heimatwert hat, je nach Perspektive der Betrachtung und auch in Abhängigkeit von der Sozialisation der Führungskraft oder des Mitarbeiters, der die Werteentwicklung für sich betreibt, ganz unterschiedliche Aspekte. Es gibt nicht das eine allgemeingültige Werte- und Entwicklungsquadrat für einen Heimatwert.
Mitarbeiter und Führungskräfte streben heutzutage vielfach nach Selbstverwirklichung. Die Selbstverwirklichung ist ein Heimatwert, der eine hohe Relevanz in der Unternehmensrealität hat und der sich damit als lohnend erweist, näher betrachtet zu werden. Abbildung A.3 veranschaulicht exemplarisch drei mögliche Werte- und Entwicklungsquadrate für den Heimatwert