»Sicher, rufen Sie nur an«, sagt Olga und macht sich daran, die Grütze in einem der Töpfe umzurühren.
Ida gibt einen gehäuften Löffel Zucker in den Becher und erstarrt mit erhobener Hand – seit Jahren nimmt sie keinen Zucker mehr. Sie lächelt vor sich hin und bleibt mit dem Kaffee vor dem Telefon stehen. Der Apparat sieht vorsintflutlich aus: rot, aus Plastik, mit einer runden Wählscheibe. Sie überlegt sich, was sie sagen soll. Dasselbe wie hier. Dass da eine Kurve war, aus der sie hinausgetragen wurde, dass es irgendwo hinter dem Schild nach Bożków und Bardo war, daran erinnert sie sich genau. Das Auto ist direkt hinter der Kurve den Abhang hinuntergefallen. Vielleicht hat man es schon gefunden. Sie legt die Hand auf den Telefonhörer und zieht sie wieder zurück.
Olga stampft die Grütze, gibt ein Ei hinein und ein Pulver, gießt Öl dazu.
»Für wen ist das Essen?«, fragt Ida.
»Wir haben noch andere Tiere hier. Adrian bringt sie her.«
Und dann:
»Rufen Sie Ihre Tochter nicht an?«
Ida verbrennt sich die Lippen am Kaffee.
»Sie ist unterwegs, ich weiß eigentlich gar nicht, wo sie ist.«
»Mit dem Kind?«
»Ja, mit dem Kind. Sie ist beruflich unterwegs. Sie schreibt Reiseführer.«
Ida denkt an die Karte von ihrer Tochter, sie liegt auf dem Schrank in ihrer kleinen Küche in Warschau, mit der Schrift nach oben. Die Arbeitsplatte betrachtet das märchenhaft bunte Riff. Maja schrieb in ihrer ungleichmäßigen Kinderschrift: Ganz liebe Grüße von ihnen beiden, sie seien gesund und munter, im März beginne der Monsun, deshalb würden sie bald an die Rückkehr denken. Jeder Satz beginnt mit einem Gedankenstrich. Unter der Unterschrift ist etwas, das aussieht wie ein Klecks. Wenn man es lange genug anschaut, erkennt man ein hastig oder unbeholfen hingezeichnetes Herz. Sie hat ein Herz gemalt. Und da ist noch etwas: eine gelungen gezeichnete Schildkröte. Die ist sicher von dem Jungen. Schade, dass sie die Karte nicht mitgenommen hat, sie könnte sie Olga zeigen.
Olga stellt keine Fragen mehr. Doch als Ida an die Karte auf dem Küchenschrank denkt, fällt ihr plötzlich ein, dass sie morgen zu einer Untersuchung ins Krankenhaus kommen soll. Sie sagt es Olga, die erwidert:
»Das Herz?«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich hab nur richtig geraten. Alle haben Probleme mit dem Herzen.« Olga sieht fast amüsiert aus.
»Der Arzt hat gesagt, dass mir nichts fehlt.«
Ida hat das Gefühl, dass Olga noch etwas sagen will, doch diese rührt nur kräftig die Grütze um und nimmt sie vom Feuer.
Beide schweigen eine Weile, dann fragt Ida mit einem Blick aus dem Fenster:
»Was ist das für ein Berg, da hinter dem Haus?«
Es sei eine Halde, erklärt Olga. Früher seien hier Bergwerke gewesen.
»Unter uns sind kilometerlange unterirdische Gänge, eine ganze Stadt.« Sie krault den weißen Hund hinter dem Ohr.
»Im Sommer kann man sie besichtigen.«
»Er sieht sehr mächtig aus, wie eine Art Zikkurat.«
Olga schaut sie fragend an, offensichtlich hat sie die Worte nicht verstanden, doch in dem Augenblick steckt Stefan den Kopf zur Tür herein.
»Komm, Ad ist da«, sagt er zu seiner Frau. Sie steht mit sichtlicher Mühe auf.
»Essen Sie etwas. Eine Scheibe Brot. Butter ist im Kühlschrank.«
4
Der Nebel draußen vor dem Fenster hat sich wieder bewegt, und jetzt sieht man, woraus er besteht – aus weichen, wogenden Streifen, wie Rauchwolken, die in Schichten und Mäandern fließen, aus kleinen, unscharfen Wirbeln, aus glatten Wellen mit unterschiedlichen Längen, die sich zu Hindernissen verwickeln, Schlingen, Kreise und Spiralen bilden. Ida betrachtet diese Bewegung vor dem Fenster, und sie meint hinter diesem Wogen dunklere, entferntere Gestalten zu erkennen. Sie legt den Hörer, den sie gedankenlos die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, wieder auf die Gabel und nimmt eine dampfende Pellkartoffel aus dem Topf. Sie ist heiß, die Haut lässt sich in Streifen abziehen.
So kochte ihre Mutter die Kartoffeln für die Hühner, sie knetete sie und gab gemahlenen Weizen dazu. Eine Zeit lang hatten sie ziemlich viele Hühner, bis der Fuchs sie holte. Er war fleißig, jede Nacht ein Huhn, so ging es einen Monat lang. Zum Schluss blieb noch eines übrig, ein mutiges, kämpferisches Huhn. Ganze Tage verbrachte es auf der Treppe vor dem Haus, es fühlte sich zu den Menschen hingezogen, vielleicht aus Einsamkeit, vielleicht wegen des Fuchses. Die Mutter jagte es fort, sie mochte keine Hühner, überhaupt keine Vögel, sie ekelte sich vor Federn, Eiern und Fleisch. Der Vater rupfte die geschlachteten, abgebrühten Hühner. Die Mutter ging dann in den Garten, um Unkraut zu jäten, oder sie ging einfach aus. Sie trug immer Strümpfe, im Haus dicke, die mit Strumpfbändern gehalten wurden; wenn sie ausging, zog sie dünne, schlüpfrige Strümpfe an, dann sahen ihre Beine aus wie die einer Plastikpuppe. Zu den dünnen Strümpfen trug sie einen Strumpfhalter, und die Knipsverschlüsse griffen fest in das knisternde Nylon und hielten es stramm, in permanenter Bereitschaft. Eines Nachts verschwand auch das mutige Huhn.
Ida beißt in die Kartoffel, sie ist wohlschmeckend, weich, zerschmilzt sofort mit einer angenehmen Wärme im Mund.
Wenn die Mutter ausging und sie und ihr Vater weit weg ihre Gestalt in einem ihrer geblümten Kleider sahen, wie sie fast im Laufschritt ins Dorf hinuntereilte, warf der Vater der Tochter einen flüchtigen Blick zu, als bitte er um Verständnis für die Mutter, als wollte er sagen: »Es ist nicht ihre Schuld, dass sie so ist«, und dann kehrte er zu seinen stillen Arbeiten zurück.
Die Untersuchungen ergaben nichts Bemerkenswertes. Sie hatte eine leichte Arhythmie, wahrscheinlich seit ihrer Geburt oder infolge von Anginen in der Kindheit.
»Nichts Gefährliches. Sie sind gesund«, sagte der Arzt und warf einen Blick auf die zwei Ziffern, die am oberen Rand ihrer Karte standen. 54. »Für Ihr Alter sind Sie in guter Kondition.«
Dann füllte er schweigend ein Rezept aus, ein mildes Beruhigungsmittel, für den Schlaf, zur Stärkung.
An einem Samstag Anfang Dezember fuhr sie in eine saubere, sterile Privatklinik. Sie bekam eine Nummer, einen Kaffee und eine Art Speisekarte. Auf elegantem, mit dem Logo des Krankenhauses geschmücktem Karton waren alle möglichen Untersuchungen aufgeführt. Daneben standen klein die Preise. Sie saß mit dem Bleistift da und kreuzte an: Toxoplasmose, Hepatitis B, HIV, Cholesterin HDL und LDL, TG/TGC, BUN, OB/ESR, WBC … Die meisten Namen verstand sie nicht. Sie kreuzte sie nur deshalb an, weil sie ihr gefährlich erschienen, wie die Namen prähistorischer Raubtiere – Thrombozyten, Hämatokrit, Monozyten, Urobilinogen, Bilirubin. Eine elegante junge Frau an der Rezeption nahm die Karte entgegen, gab ihr einen Termin, zu dem sie nüchtern erscheinen sollte. Sie reichte ihr diskret einen komischen Behälter für den Urin und wünschte ihr einen angenehmen Tag. Das ist jetzt Mode, dass man sich einen angenehmen Tag wünscht. Auf dem Weg hinaus kaufte Ida in der Klinikapotheke ein kleines Fieberthermometer im Plastiketui und nahm sich vor, jeden Tag systematisch gleich nach dem Aufwachen die Temperatur zu messen. Ein paar Tage schaffte sie es auch. Die gemessenen Werte trug sie auf einer Karte ein, die mit einem Magnet am Kühlschrank befestigt war. 36,7, 36,4, 36,6, 36,6 – alle lagen in einem vollkommen unauffälligen Bereich, doch erst jetzt wurde ihr dank dieser sanften Monotonie klar, dass sie ja keinen Eisprung mehr hatte und daher das Meer, der dunkle innere Ozean, verstummt war und dass eine noch dunklere Nacht auf ihn hinabsank. Ein stilles, unermessliches Gewässer. Wogen, die keine Muschel mehr in Bewegung versetzten.
Früher hatte sie sich so die Temperatur gemessen, vor über dreißig Jahren, im Studium. Alle Mädchen hatten Thermometer im Zimmer, kleine