Verblüfft steht sie da, die Hand in die Luft gestreckt.
Sie setzt sich aufs Bett. Sie hebt ihre Sachen auf und fängt an sich anzuziehen. Es ist kalt, die Apfelfeuchtigkeit haftet auf der Haut, jetzt nimmt Ida in diesem Geruch einen Hauch von Fäulnis wahr.
Es war eine dumme, unüberlegte Idee gewesen, bei diesem Wetter loszufahren, um das alte Haus zu besuchen. Eine unkluge Sentimentalität, vielleicht gab es das Haus gar nicht mehr. Als sie es verkaufte, hielt es sich kaum noch aufrecht. Und selbst wenn es noch existiert – sicher wohnen jetzt fremde Leute dort, die aus der Stadt auf Urlaub hier sind, und solche Besuche sind für beide Seiten peinlich. Sie sieht den Flur vor sich, Skibindungen und Skistöcke liegen drunter und drüber, in der Küche Rucksäcke, fremde Socken, die über dem Herd trocknen. Den Kachelofen haben sie abgerissen und stattdessen einen norwegischen Eisenofen aufgestellt. Vielleicht haben sie auch renoviert, und es ist nichts mehr da, was sie erkennen könnte.
Aber auch wenn es noch genauso wäre wie früher – was sollte sie damit anfangen? Wo sollte sie diese Bilder unterbringen, womit sie verbinden, wie die überflüssigen Erinnerungen pflegen? Sie lächelt vor sich hin, während sie den Rock anzieht – ihre Mutter war in den Osten gefahren, um die Orte wiederzusehen, die sie verlassen hatten. Ihr fallen die Deutschen ein, die jedes Jahr die Gegend heimsuchten, guckten und fotografierten, das Gelände wie mit einem Scanner absuchten, um sich zu vergewissern, dass jene vergangene Welt, die in ihren Köpfen existierte, doch in der Außenwelt verankert ist, dass sie nicht einer, wenn auch harmlosen, Paranoia erlegen sind, in der sie unter den ironischen Blicken der eigenen Kinder von Erinnerungen und Träumen zehren. »Das muss ein magischer Glaube sein, in dem Menschen auch nur für einen Augenblick die Zeit umkehren und das Vergangene berühren können«, denkt Ida. Das Wesen jeder Religion ist nicht die Auferstehung und nicht die Erlösung, sondern die Umkehr der Zeit, die bewirkt, dass sie sich selbst in den Schwanz beißt, endlos das wiederholt, was sie bereits gesagt hat, auch wenn es ein kaum verständliches Gebrabbel ist. Ihre Mutter kam von diesen Reisen lebhafter und scheinbar verjüngt zurück. War es ihr gelungen, die Zeit zurückzudrehen? War es der östliche Sabbat, an dem die Vergangenheit heraufbeschworen wird, der das vielsagende Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter zauberte?
Ida versucht, die Miene der Mutter nachzuahmen. Sie übt die zarten Gesichtsmuskeln. Sie schaut sich nach einem Spiegel um, aber es ist keiner im Zimmer, deshalb geht sie ans Fenster. Doch sie kann ihr Gesicht nicht darin sehen, oder sie sieht es und beachtet es nicht.
Vor ihr tritt ein großer Hof aus dem Nebel, leer, frisch beschneit, unter seiner weißen Decke vor Blicken geschützt. Weiter oben, hinter den Gebäuden, sieht sie den Berg, er ist hoch, der Gipfel sogar noch im Nebel. Die Hänge sind steil und glatt, nur mit kleinen Bäumen bestanden, die von hier aus wie Kommas aussehen, nervös gesetzte Strichlein auf einer schwarz-weißen Skizze. Sie ragen über den Garagendächern auf, über den Gebäuden und untätigen Grubenkränen.
Gebannt von diesem Anblick, wartet Ida fröstelnd, dass sich der Nebel weiter lichtet und endlich den Gipfel enthüllt. Doch Augenblick um Augenblick vergeht, offensichtlich ist die Darbietung schon vorüber, in weichen Kaskaden fließt weißliches Grau herab und verhüllt wieder, was es zögernd hat sichtbar werden lassen.
Vorsichtig steigt sie die steile, schlecht beleuchtete Treppe hinunter. Auf den Stufen liegen Reste eines roten Läufers. Der Geruch von brennendem Holz steigt ihr in die Nase, und als sie kurz darauf die vertraute Küchentür öffnet, schlägt ihr eine Woge warmer, harzduftender Luft entgegen. Es riecht auch nach gekochten Kartoffeln, die in einem Topf auf der erhitzten Herdplatte leicht dampfen, und nach Grütze, die bullert und fast gar ist, wie Ida sieht, als sie den Deckel hochhebt. Sie würde gerne nur den Geruch essen, die Grütze selbst sieht nicht sehr appetitlich aus, ein grauer Brei.
Die Hauswirte sind nicht da. Das Lager der Hündin Ina ist auch leer. Ida will aus dem Fenster schauen, doch vor der Fensterscheibe hängt schon das neblige Grau, dessen Invasion sie von oben beobachtet hat. Krankenhaus, es erinnert sie an das Krankenhaus ihrer Kindheit, wo alle Scheiben weiß angestrichen waren.
Die Eltern hatten sie ins Krankenhaus gebracht und dortgelassen. Sie weinte die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, sie fühlte sich zutiefst hintergangen, dass ihre Eltern so etwas tun konnten. Am zweiten Tag war sie schwach vom Fieber und vom Weinen, sie stellte sich vor, sie wäre tot und sähe den Begräbniszug und ihren Sarg, und natürlich auch die beiden: ihre schöne, ruhelose Mutter, die sich jetzt vor Gram windet, oh, wie sie sich grämt, wie sehr sie sich grämt, und den Vater, das Gesicht in den tränennassen Händen, und die Kinder aus der ganzen Schule und die Lehrer und die Ärzte und Krankenschwestern. Der Gedanke an den eigenen Tod ist gut, bittersüß wie junge Stachelbeeren, wie die ersten Äpfel.
Aus diesen Fenstern sieht man nichts. Sie setzt sich an den Tisch mit der abgewetzten Wachstuchdecke und schaut sich in dem Raum um, während sie auf das Essen wartet. Hier gibt es nichts Überflüssiges, kein Luxusobjekt, höchstens der Kalender: Bilder von raffinierten Speisen in grellen Farben. Der März zeigt einen Fisch, angerichtet auf einer länglichen Schale, gelbe Zitronenscheiben und grüne Petersiliensträußchen beleben den gebackenen toten Fischkörper. Das Grün und Gelb auf dem Kalender sind die einzigen Farbflecken in dieser farblosen Küche, in dieser blinden Küche mit den milchigen Fenstern. Über der Herdplatte hängen Porzellanbecher an Haken, sie nimmt einen herunter und füllt ihn mit Leitungswasser. Sie trinkt gierig, ein, zwei Becher und noch einen halben. Nach einem kurzen Blick auf den Teekessel geht sie auf die Suche nach der Toilette, hinaus in den dunklen, kalten Flur. Sie öffnet erst die falsche Tür zu einem kleinen Vorratsraum voller Pappschachteln. Aber gestern war sie doch im Bad, irgendwo hier muss es sein. In diesem Augenblick öffnet sich die Eingangstür, zuerst stürmt der große weiße Hund herein, kurz darauf steht Olga in der Türöffnung, sie hat die kranke Hündin auf dem Arm. Der eisige Nebel dringt in den Flur, rasch drängt er sich an Olgas kleinem Körper vorbei und erfüllt den Flur mit einem flüchtigen, milchigen Dämmer. Ida öffnet ihr schnell die Tür zur Küche und murmelt dabei einen Morgengruß. Olga dankt und sagt:
»Letzte Tür links.«
Dann verschwindet sie mit dem Hund in der Küche.
Das Badezimmer ist kalt und karg. Auf dem Boden steht ein elektrischer Heißluftofen. Der Ventilator setzt sich unwillig, schwerfällig und knirschend in Gang.
In dem kleinen Spiegel über dem Wasserhahn mustert Ida ihr Gesicht. Keine Verletzungen, aber sie ist verändert, vielleicht liegt das an dem trüben Licht, das hier überall herrscht. Ihr Gesicht kommt ihr nicht fremd vor, aber anders, als sei es keiner längeren Betrachtung wert, verschwommen, ein Objekt, das man tagtäglich sieht, die gelangweilten Augen gleiten langsam und systematisch darüber hinweg und nehmen es nicht mehr wahr. Sie berührt die Oberfläche des Spiegels, ihr Gesicht versteckt sich hinter ihren Fingern, dann ist es wieder da, immer noch merkmalslos, unscharf. Ida tastet sich systematisch ab, Arme und Bauch, sie prüft die Härte des Brustkorbs und die Weichheit des Halses, ob nichts gebrochen ist, nichts auf Druck wehtut, nichts zu Besorgnis Anlass gibt. Beine, Füße, Knie, Schenkel, Gesäßbacken, Becken. Stille.
Sie sieht sich selbst. Haare bis auf die Schultern, glatt, das Grau verborgen unter einer Haarfarbe der Serie »Natürliche Tönung«, Wella oder Schwarzkopf, Nummer null fünf, wahrscheinlich hellbraun – an diese Farbe hat sich ihre Gesichtshaut über die Jahre hinweg gewöhnt. Der Hals – lauter Ringe, als wäre er mit etlichen dünnen Fäden umwickelt. Dieser Prozess ließ sich nicht aufhalten, weder Cremes noch Massagen haben geholfen. Die Oberarme wurden kleiner, zerbrechlich, das Gewebe, das sie bedeckte, verwelkte, jetzt fängt es an, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten zu wandern, an geschütztere Stellen. Die Brüste – sie schenkt ihnen selten noch Aufmerksamkeit – sind tränenförmig geworden, Tropfen aus weichem, feinem Wildleder. Und jetzt fällt es ihr auf: Den ganzen Körper zieht es zur Erde, als wären alle seine Teile schon erschöpft und müde und gäben still das tägliche Gerangel