Ida schlägt die Schöße des Morgenmantels zusammen, dabei wird ihr bewusst, dass ihre Beine nackt sind. Aber sie spürt keine Kälte. Von Sekunde zu Sekunde wird es dunkler im Hof, als sei der Abend fest entschlossen, hier, vor ihren Augen, anzubrechen. Es schneit, der Schnee hat die Spuren des Autos schon fast zugedeckt. Der Hund macht ein paar Schritte auf schwankenden Beinen, dann lässt er einen Strahl Urin, ohne überhaupt zu versuchen, in die Hocke zu gehen. Ein dunkler Fleck im Schnee. Reglos steht er darüber, hilflos, offenbar haben die paar Schritte seine Kräfte völlig erschöpft, und er senkt den Kopf.
Der Alte nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn unter sichtlicher Anstrengung ins Haus.
»Was fehlt ihm?«
»Sie kann nicht mehr«, sagt der Mann. »Sie hat Krebs. Es ist eine Hündin. Ina, so heißt sie.«
»Lässt sich nichts mehr machen? Eine Operation oder Bestrahlungen?«
»Es ist für alles zu spät.«
»Was soll denn dann werden?«, sagt sie mit plötzlicher Sorge, ja Panik.
»Sie wird sterben«, sagt der Mann keuchend unter dem Gewicht des Tieres und verschwindet im dunklen Viereck der Tür.
Ida folgt ihm nicht in die Küche, sondern bleibt im dunklen Flur stehen. Sie greift nach dem Geländer, sie fühlt sich, als wöge sie Tonnen, als wäre sie schwer wie die ganze Welt. Sie versucht, ihr Bein zu bewegen, aber es gelingt ihr nur, den Fuß ein kleines Stück nach vorn zu schieben. Der Körper gehorcht ihr nicht. Sie will nach Olga rufen, doch die Stimme versagt ihr. Kehle und Zunge sind in der richtigen Stellung, aber die Luft fließt einfach durch sie hindurch, berührt sie nicht einmal. Vor Angst wird ihr heiß. Sie meint einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu haben, etwas Plötzliches, das sich wie ein Netz über sie gestülpt hat und sie einengt. Langsam, Wort für Wort, Gedanke für Gedanke, muss sie sich klarmachen, dass dies ihre Beine sind und dass sie ein Recht auf sie hat. Sie konzentriert sich auf ihre Beine, und nach einer Weile gelingt es ihr, einen kleinen Schritt zu tun. Wie eine Schwerkranke beginnt sie, die Treppe hinaufzusteigen. Es geht immer besser, ja, das Schreckliche ist vorüber. Auf der Suche nach dem Lichtschalter tastet sie im Dunkeln, findet ihn und dreht ihn, es ist ein altmodischer brauner Ebonitschalter, die Finger müssen lernen, ihn zu drehen und nicht zu knipsen. Ihr wird übel.
»Entschuldigung«, sagt sie nach unten. »Ich lege mich einen Augenblick hin.«
Sie bemerkt Olga, die unten an der Treppe steht und ihr besorgt nachschaut. Noch ein paar Schritte, und sie hat es geschafft, sich in dem entsetzlichen düsteren Licht der Glühbirne zur Tür ihres Zimmers zu schleppen. Erst jetzt begreift sie, dass es nur Angst ist, die sie quält, keine Krankheit.
Olga kommt in ihr Zimmer, setzt sich auf die Bettkante und nimmt ihre Hand.
»Ich bin bei dir. Es ist ja alles gut.«
Dankbar erwidert Ida den Druck der trockenen, knochigen Hand.
3
Das Bild erscheint zaudernd, schwerfällig – zuerst füllt sich das Rechteck des Fensters vor dem Hintergrund der gleichmäßigen Dunkelheit im Zimmer mit Grau, dann leuchtet es silbern und kalt, wie eine aus der Lethargie erweckte Leinwand unmittelbar vor einer Projektion. Ida könnte nicht genau sagen, wann sie aufgewacht ist. Aber sie weiß undeutlich, was kommen wird, sie hat das Gefühl, dass sich hier ein Tagesanbruch wiederholt, vielleicht sogar viele Tagesanbrüche.
Das Wachen unterscheidet sich vom Schlaf durch die Anspannung der Gedanken – diese unsterblichen, dehnbaren Atome der Welt, diese summenden, bebenden Saiten, ohne Anfang und Ende, Geschosse, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos schnellen wie die Samen von Außerirdischen. Sie siedeln sich in den Köpfen an und verbinden sich miteinander durch einzelne Details, Assoziationen, Analogien zu unendlichen Ketten. Eigentlich weiß niemand, wie sie sich verbinden, was sie zusammenhält, was für eine Ordnung darin herrscht, und sie wissen es selbst nicht, sie brauchen keine Ordnung, lieber geben sie sich nur als Ordnung aus, schaffen kurzlebige, schöne, logische Konfigurationen, phantastische Schneeflocken, fügen sich zu einfallsreichen Abläufen mit Ursache, Grund und Ergebnis, die sie dann jedoch unvermittelt wieder zerstören, zerschlagen, zerreißen und auf den Kopf stellen, sie eilen weiter, doch auf gewundenen Wegen, als Kreis, Spirale, Zickzack oder umgekehrt, sie verschwinden, ersterben, verfallen in einen tiefen Schlaf, um dann plötzlich zu explodieren und als Lawine abzugehen. Man kann auf gut Glück einen Gedanken fangen, ihn packen wie die Schnur eines Drachens, sich eine Zeit lang tragen lassen oder daran festhalten, ihn genauer betrachten und dann beiseitelegen, um anderen, noch verwickelteren und zudringlicheren Platz zu machen. Im Wachen spiegeln sie eine Ordnung vor und täuschen, der Schlaf befreit sie vom Schein. Nachts führen sie ihr Lotterleben.
Mit dem Licht, das durch das Fenster hereinfällt, werden sie immer aggressiver und ausgeprägter, sie formieren sich zu heimtückischen Gruppen und ziehen aus, den Tag zu unterwerfen, sie zerrupfen ihn unter sich, reißen ihn in kleine Streifen, zerstampfen ihn. Die Denkmaschine läuft.
Ein Gedanke ist stärker als die anderen, er drängt sich vor, und nach Sekundenbruchteilen herrscht er über alle anderen. Es ist ein Bild: Mai, Frühling. Ida erkennt den Geruch der Erde, die die ersten Knospen schon hat durchbrechen lassen und jetzt ein wenig ausruht. Die Sonne fällt durch die kleinen, zerkratzten Fensterscheiben, verschönert das Haus, verwandelt es in ein anderes Gebäude, das größer, heller ist. Die fast waagrechten Lichtstrahlen lassen die Struktur des Putzes auf den Wänden hervortreten, die Geheimnisse der Placken und Wasserflecken, lassen die älteren Farbschichten sichtbar werden. Die Sonne ist nicht die Schöpferin der Kunst der Welt, vielmehr bietet sie sie auf gewiefte Weise feil.
Ida ist acht Jahre alt, sie lernt zaubern, ganze Nachmittage vergnügt sie sich mit der Herstellung von Mixturen, die ihr Zauberkraft verleihen sollen. Sie ist oben in ihrem Zimmer. Sie geht ans Fenster und sieht einen Schmetterling, den die Sonne aus seinem Schlupfloch geholt hat. Schmutzig, verstaubt liegt er auf der Fensterbank, bestimmt ist er vom letzten Jahr. Die Flügel mit dem schönen symmetrischen Muster hat er ausgebreitet. Das ist kein gewöhnlicher Schwalbenschwanz, sondern ein selteneres Exemplar. Auf den graubraunen Flügeln zeichnet sich ein Augenpaar ab. Die Illusion ist vollkommen: In der Mitte der mandelförmigen Augen sind die dunkelgrüne Regenbogenhaut und die schwarze Pupille. Der Schmetterling sitzt reglos da, wie ein schöner, geheimnisvoller Gegenstand, ein zartes, chimärisches Schmuckstück. Sie meint zu erkennen, dass die Flügelspitzen zittern. Die kleine Ida schiebt vorsichtig die Hand unter den Schmetterling und legt ihn genau in die Mitte, wo sich die Handlinien kreuzen: Die waagrechte Schicksalslinie schneidet die Herzlinie und gleich dahinter die Lebenslinie. Manchmal spielt sie mit der Mutter Handlesen, daher weiß Ida das. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass die Handmitte einen Leben spendenden Dunst ausströmt. Der federleichte Schmetterling ist ganz darin eingetaucht, der Dunst wäscht Staub und Winter von ihm ab und gibt ihm das Leben zurück. Ihre Aufregung steigert sich, als sie nach einiger Zeit eine Bewegung spürt, ein verhaltenes nervöses Zittern, sie öffnet die Augen und sieht, dass sich die Flügel wirklich bewegen, sie wollen sich weiter strecken, den ganzen Raum umspannen. Der Schmetterling wandert nun unbeholfen über ihre Handfläche, trippelt nach vorn und zurück, rollt auf der Landebahn. Ida bewegt sich behutsam, hält den Atem an. Sie öffnet das Fenster und streckt die Hand mit dem Schmetterling von sich. Die Luft strömt in frischen Wellen herein, in leisen Windstößen. Der Schmetterling lebt auf, er spürt das Sonnenlicht, das den Raum erfüllt, den warmen Tag, und beginnt mit den Flügeln zu schlagen. Idas Herz klopft heftig, sie hält den Atem an. Die Augen erklimmen ihren Mittelfinger und erforschen eine Zeit lang die Luftströme, wie ein Flieger, der auf den rechten Moment für den Start wartet. »Flieg, flieg!«, sagt sie zu ihm, aber er zaudert, die Flügel schwirren, die kleinen Beinchen klammern sich noch an der Fingerhaut fest, wollen nicht gehorchen. Zu guter Letzt löst er sich, unwillig und langsam, von seinem Halt und setzt sich in Bewegung, erst fällt er ein kleines Stück,