Noch war es ruhig. Auf der Rheinbrücke für Radler und Fußgänger allerdings kamen ihr schon wesentlich mehr Leute entgegen. Sie zögerte und fragte sich, ob sie gerade das Richtige tat. Aber es waren alles junge Leute mit Rucksäcken und Umhängetaschen in Gepäckträgern. Gewiss waren die meisten Studenten unterwegs zur Fachhochschule, die in dem Stadtteil mit dem schönen Namen Paradies lag. Die FH befand sich in den Gebäuden eines ehemaligen Schlachthauses. Als Sibylle das bei einer Studentenparty mitbekommen hatte – im Eingangsbereich hingen immer noch Fotos aus der Zeit –, war sie tief schockiert gewesen. Sie glaubte nicht an Seelenwanderung, wohl aber daran, dass gequälte Seelen einen Raum prägten. Doch es kam noch schlimmer: Bis in die neunziger Jahre war die FH nur in eine Hälfte der Gebäude gezogen, in der anderen wurde nach wie vor geschlachtet. Die Studenten jedoch hatten sich beschwert, dass man im Sommer das Fenster nicht öffnen könne, weil man dann das panische Schreien der Tiere höre. Ihre Todesangst. Wie sollte man da lernen?
Die Radbrücke, auf der täglich bis zu fünfzehntausend Radler unterwegs waren, mündete genau in den Herosé-Park, ein ehemaliges Firmengelände. Bis 2000 wurden hier Textilien veredelt. Das Wissen huschte an Sibylle vorbei, stolperte aber über ihre innere Unruhe.
Im Park angekommen, hielt sie inne. Sie tastete nach dem Buch in ihrer Tasche. Es war tatsächlich gut, es dabeizuhaben. Sie sah in beide Richtungen, unschlüssig, wohin sie gehen sollte. Rechts lag die Villa Rheinburg, irgendwo auch das Rheinstrandbad. Sibylle entschied sich für die andere Seite. Sie ging auf den breiten Wegen nach Westen in Richtung der Villa Schneckenburg. Die Bäume säumten den Weg am Rhein entlang und leuchteten goldgelb um die Wette. Am Boden lagen die bunten Blätter, die sich vom Sommer verabschiedet hatten. Ihre zarten Adern waren wie filigrane Kunstwerke überall verteilt. Zwei Birken hatten sich einander zugewandt, es sah aus, als wollten sie tanzen.
Sibylle genoss die Ruhe, die von der Allee ausging. Niemand würde sie hier ansprechen. Sie setzte sich auf eine der Bänke und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Nach einigen Minuten fühlte sie sich einigermaßen entspannt. Sie nahm sogar das Buch aus ihrer Tasche und schlug es auf. Nach ein paar Zeilen jedoch legte sie es neben sich auf die Bank und genoss einfach den Ausblick.
Sie war in Konstanz aufgewachsen, und doch kam ihr der Ort in diesem Moment vollkommen neu vor, als würde er sich mit ihr verändern. Sibylle wusste, dass sie Angst hatte. Weniger vor denjenigen, die ihren Hass laut herausriefen, als vor denjenigen, die ihr ins Gesicht lächelten, ihr die Hand reichten und viel Glück wünschten, insgeheim aber gewiss das Gegenteil hofften. Sie waren überall und doch unsichtbar. Sie schüttelte den Kopf, dann hörte sie ihren Magen knurren.
Der Ebertplatz war nicht weit entfernt, dort gab es ein vegetarisches Restaurant. Mit schnellen Schritten lief sie durch den Park und stand wenig später vor dem imposanten Gebäude mit halbrunden großen Fenstern, einem Erkerturm und schönen Voluten in der Fassade. Sibylle sah hinein. Der rote Schriftzug vom Fenster wiederholte sich in einzelnen roten Hockern und Kissen, das gefiel ihr. Die Aussicht, jetzt zur Stärkung einen Kaffee zu genießen und – sie sah auf die Speisekarte – ein Panini mit Auberginencreme, bestätigte ihr, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Sie hatte in den letzten Wochen so viel über ihre eigene Sicherheit nachgedacht, über das Leben, das sie eigentlich führen wollte, über Mut und Zuversicht, dass sie jetzt froh war, endlich einmal wieder allein unterwegs zu sein.
Sie wollte gerade hineingehen, als sie die beiden roten Busse der Linie 9 entdeckte. Sie fuhren hintereinander, ruckartig, irgendwie auffällig. Voll besetzt kamen sie an ihr vorbei in Richtung Sternenplatz, um wenig später zum Benediktinerplatz abzubiegen. Kamen die nicht von der Universität?
Sie hatte von dem Überfall gehört, davon, dass fünfzig Menschen in der Gewalt von Geiselnehmern waren und man noch nicht wusste, wie viele Menschen sich sonst noch an der Universität aufhielten. Der Busverkehr war offiziell eingestellt, aber woher kamen diese Busse, wenn nicht von der Universität? Sibylle spürte die Gänsehaut auf ihrem Rücken. Die Gleichzeitigkeit machte ihr nicht zum ersten Mal Angst und jetzt auch ein schlechtes Gewissen. Während sie hier über ein spätes Frühstück nachdachte, waren knapp zwei Kilometer weiter Menschen in Lebensgefahr. Schlagartig verlor sich das Gefühl von Freiheit. Umgehend suchte sie nach ihrem Handy, um ihren Personenschützer, Otto Behringer, anzurufen. Während sie wartete, fiel ihr auf, dass sie ihr Buch auf der Parkbank vergessen hatte – der kurze Anflug von Normalität war buchstäblich verloren gegangen.
***
Während Busch sich bemühte, Zugriff auf die Kameras der Verkehrsüberwachung rund um die Universität zu erlangen, saß Sito an seinem Schreibtisch und suchte nach Enzigs letzten Fällen. Gab es vielleicht doch einen persönlichen Zusammenhang? Was hatte es mit diesem älteren Herrn auf sich? Wenn Enzig es für so wichtig hielt, dann war es mehr als ein merkwürdiges Gefühl – mindestens Intuition, vielleicht sogar ein konkreter Verdacht.
Sito überprüfte die Werbung, die für den Kurs gelaufen war. Es war eine öffentliche Veranstaltung, nicht nur für Studenten. Die Sekretärin hätte weiterhelfen können, aber es gab keine Verbindung mehr zur Universität. Die Beamten, die versucht hatten, sich über den Wald oberhalb der Mainau nach oben zu arbeiten, hatten noch keine brauchbaren Hinweise. Am Eingang hatten sie einen bewaffneten Mann gesehen, damit stieg die Zahl der Geiselnehmer auf sieben, und dass am Haupteingang ebenfalls Männer standen, daran hatte Sito keinen Zweifel. Welche Gruppe konnte im Stillen einen solch großen Einsatz planen?
Er rief bei Zimmermann an und teilte ihm die Neuigkeiten mit, während er zu dem Foto von Miriam auf seinem Schreibtisch blickte. Die Glückliche saß irgendwo in Gaienhofen.
»Wir haben weitere Waffenkäufe im Darknet gefunden«, erzählte Zimmermann. »Mit Modellbezeichnung. Wir glauben, einen Verkäufer zu kennen, allerdings kollidiert diese Info mit einer lang angelegten Beobachtung von Waffenhändlern. Das wird noch nicht freigegeben.«
»Himmel«, rief Sito aus, »da geht es um über fünfzig Menschenleben!«
»Im anderen Fall vielleicht um viel mehr. Paul, schimpf nicht auf mich, ich bin nur der Bote. Ich schau, was ich tun kann. Ich hab die Kollegen aus München und Duisburg an der Strippe. Kann Enzig vielleicht ein Modell benennen?«
»Er weiß, worauf es ankommt. Wenn er was Neues hat, dann schreibt er uns, da bin ich sicher«, erklärte Sito.
»Du willst ihm keine Infos zukommen lassen? Ich würde das versuchen.«
Sito tippte auf seinen Schreibtisch. »Ich bin unschlüssig, was, wenn er sein Handy nicht auf lautlos gestellt hat?«
Am anderen Ende hörte er Zimmermanns Finger knacken. »Unterschätz ihn nicht.« Ein Räuspern übertönte das erneute Knacken. »Nein, Quatsch, Paul. Enzig war dort für einen Vortrag! Der hatte sein Handy auf jeden Fall aus. Schreib ihm zurück. Er muss wissen, dass wir seine Nachrichten lesen.«
Sito nickte. »Du hast recht. Ich werde ihm schreiben. Unter uns, Karl: Du gehst nach wie vor davon aus, dass eine rechtsradikale Gruppierung für die Geiselnahme verantwortlich ist, nicht wahr?«
Zimmermann blieb ihm die Antwort schuldig, denn plötzlich wurde Sitos Zimmertür aufgestoßen, und Rosa stürmte herein. »Unten sind zwei Busse. Wir sollen sofort …« Sie stand im Raum, plötzlich wie eingefroren mitten in der Bewegung. Der Satz blieb unvollendet in der Luft hängen, und Rosa fuhr sich mehrmals nervös durch die Haare.
Sito sprang auf und rannte zum Fenster. Da standen zwei rote Busse der Neuner-Linie von der Universität. Innerlich schlug Sito sich gegen die Stirn. Sie wussten doch, dass Busse unterwegs waren. Sie hatten die Linie zwar gestoppt, aber da hätte doch bereits klar sein müssen, dass noch welche an der Universität standen. Der Takt der Busse, die Vorgabe für die Straßensperren, sie hatten sich ein Schlupfloch gelassen … »Himmel, weshalb haben wir daran nicht gedacht?«
»Paul, kommst du?«
Sito drehte sich zur Tür. Neben Rosa stand nun auch Marc Busch. Im selben Moment