»Die Geiselnehmer haben noch immer keine Forderung geschickt«, sagte Busch von seinem Schreibtisch aus. Er hatte sich hingesetzt und sah sich suchend um. Abrupt stand er auf. »Und? Was entdeckt in dem Baum?«, fragte er. »Ich brauch einen Kaffee. Du auch?« Ohne die Antwort abzuwarten, trat er zur Kaffeemaschine und kochte eine ganze Kanne für sie beide. Das Gurgeln war für eine kleine Weile das einzige Geräusch im Raum, durchdrungen von den Rufen durch das Megafon, die sich blechern über den Platz vor dem Präsidium nach oben verteilten.
Sito legte sich die Hände in den Nacken. »Die haben wieder Stäbe aufgebaut.«
»Hm?«
»Gegen die Tauben. Diese Minispeere.« Sito öffnete das Fenster und beugte sich hinaus, um die Metallspitzen umzubiegen, scheiterte jedoch. »Jedes Mal sehe ich eine aufgespießte Taube in meiner Phantasie.« Er würde eine Zange brauchen, um die Speere unschädlich zu machen.
Busch starrte nach draußen. Er musste sich losreißen. »Der Kaffee«, murmelte er. »Ich glaub –«
»Es ist schrecklich«, sagte Sito. »Wir stehen hier und können nichts tun, außer zu warten.«
»Das ist ein schlechtes Zeichen, dass die sich noch nicht gemeldet haben«, sagte Busch und trat mit zwei Kaffeetassen neben Sito ans Fenster.
»Die da unten«, Sito nickte in Richtung Parkplatz, »die erleben gerade die Hölle, und nichts in ihrem Leben wird mehr so sein, wie es mal war.« Er trank einen Schluck. »Also, Marc, lass uns die Ereignisse rekonstruieren.« Sito setzte sich mit seinem Kaffee und wartete, bis Busch ihm gegenübersaß, dann nahm er einen Zettel und einen Stift und begann zu notieren. »Ungefähr um acht Uhr dreißig sieht die Sekretärin bewaffnete Männer im Gang, oder?«
Busch nickte. »Soviel ich mitbekommen habe, war die Rede von vier Männern.«
»Vier Männer zusätzlich zu den sechs Geiselnehmern in der Uni. Hm, scheint mir ungleich verteilt. Gehen wir mal lieber davon aus, dass es noch mehr sind.«
»Garantiert sind es mehr. Die haben sicherlich Posten an den Ausgängen.«
Busch nahm sich Zucker für seinen Kaffee und reichte die Zuckerdose an Sito weiter. »Sie wollte sich in ihrem Zimmer verstecken, aber dann kamen wieder Bewaffnete und forderten sie auf, zum Ausgang zu laufen.«
»Und dort standen zwei Busse?«
»Genau. Einer der Männer erklärte ihnen, dass ihnen nichts passieren wird, wenn sie sich ruhig verhalten.«
»Und alle stiegen sie ein.« Sito nickte, rührte seinen Kaffee um, trank noch einen Schluck, der jetzt mit Zucker schon besser schmeckte. »Die Busfahrer wussten nichts von der Bombe? Ist das glaubwürdig?«
Busch nickte. »Frau Hauser hat erzählt, dass die beiden Busfahrer draußen warten mussten und von einem Mann mit Waffe in Schach gehalten wurden. Die Sekretärin konnte sehen, dass etwas besprochen wurde, woraufhin sich die Busfahrer die Hände vors Gesicht schlugen, und einer hat was gerufen, was wie ›nein‹ klang, aber sie hatte nicht verstanden, worum es ging. Nach dem Losfahren hat der Fahrer dann über den Lautsprecher verkündet, dass in einem der beiden Busse eine Bombe an Bord wäre, er aber nicht wüsste, ob sie in diesem Bus ist oder in dem anderen. Beide hätten den Auftrag gehabt, zum Polizeipräsidium zu fahren, ohne anzuhalten, vor allem, ohne jemanden aussteigen zu lassen. Auf dem Parkplatz des Präsidiums würden sie dann erfahren, ob sie in dem Bus mit der Bombe sitzen.«
»Also glaubwürdig.«
»Absolut. Evelyn Hauser meinte, die Fahrt von der Universität runter in die Stadt hätte sie wie in Trance erlebt. Alles schien in Watte gepackt und nur in Zeitlupe zu schleichen. In Gedanken hat sie das Szenario durchgespielt, wenn sie im Bus mit der Bombe säße, und sich innerlich verabschiedet von ihren Lieben, sie gar vor ihrem geistigen Auge bei ihrer Beerdigung weinen gesehen. Du kannst dir die Aussage noch einmal anschauen, es werden alle aufgezeichnet.«
»Okay, dann haben wir also einen Bus mit rund hundert unschuldigen Menschen und einer Bombe da unten.«
»Das sind Sadisten, so viel wissen wir jetzt auch«, sagte Busch und trank den Kaffee, als bräuchte er ihn gegen die innere Kälte.
»Ich weiß nicht recht, das ist sehr merkwürdig. Ich muss immer an Romans Bemerkung über den alten Mann denken.«
»Hat er noch mal geschrieben?«
»Nein, natürlich nicht. Das hätte ich dir doch sofort gesagt, Marc.« Sito kratzte sich an der Stirn. »Ich werde ihn über die Busse informieren, aber ich hab echt Magenschmerzen dabei, ihm zu schreiben.«
»Ja, das verstehe ich«, sagte Busch. »Hast du denn in Romans Fällen etwas gefunden, was in einem Zusammenhang stehen könnte?«
Sito schüttelte den Kopf. »Nichts, was so eine große Geschichte erklären würde.«
»Das ist ja das Problem«, sagte Busch nachdenklich, »was fiele uns überhaupt ein, das eine so große Geschichte erklären könnte?«
***
Vor seinen Augen flimmerte es, als wäre die Luft zu heiß. Er blinzelte mehrmals, fokussierte die roten Stangen an der Decke, um seine Sehschärfe zu überprüfen, und zählte langsam von zehn rückwärts, den Atem bewusst kontrollierend. Allmählich gewann das Gestänge unter der Decke wieder an Kontur. Drei – zwei – eins. Enzig begriff, dass ihm Schweiß in die Augen gelaufen war, nichts weiter.
Was hatten die vor? Warum gab es nicht endlich Forderungen? Niemand hatte den Raum verlassen. Sie saßen einfach hier und warteten. Unruhig sah Enzig sich um. Worauf verdammt noch mal warteten die?
Miriam fing seinen Blick auf und hob die Augenbrauen. Enzig war sich umgehend sicher, dass sie denselben Gedanken hatte. Ihr investigatives Talent wäre ihr zuletzt beinahe zum Verhängnis geworden, auf alle Fälle war es unbestreitbar. Sito würde sich damit abfinden müssen, dass aus ihr, wenn nicht eine Polizistin, so doch eine Kriminalistin werden würde. Sie gab Enzig mit den Augen ein Zeichen. Gewiss wollte sie ihm Zeit verschaffen, die er sinnvoll nützen sollte.
Miriam hob die Hand. »Hans«, sie winkte, blieb aber sitzen. »Können wir jetzt reden? Sie sagten doch, dass –«
Hans war im Gespräch mit dem Mann an der rechten Seitenwand. Beide sahen sie zu jenem an der Tür, der wieder telefonierte. Gert indessen kam auf das Podium und baute sich vor Miriam auf. »Klappe, du renitentes Biest«, schimpfte er.
»Du hast mir gar nichts zu sagen. Gert«, erwiderte Miriam, und Enzig hielt den Atem an. Dieser Gert kochte bestimmt vor Wut. Seine Sturmmaske ließ einen Blick auf seine Augen- und Stirnpartie sowie seinen Mund zu, und ein Stück am Hals lag ebenfalls frei, weil die Maske dort verrutscht war. Ein Stückchen blanke Haut. Enzig musste an Achilles denken, ein winziges verwundbares Stück, die Halsschlagader. Schnell schüttelte er die Bilder ab, die sich gerade einen Weg bahnen wollten.
»Nenn mich nicht Gert, sonst …« Er trat noch einen Schritt näher. Die Menschen um Miriam herum wurden unruhig. Enzig glaubte, die Ader am Hals des anderen pochen zu sehen.
Blanke Haut, verwundbar. Klatschmohnrot, eine Fontäne … Weg mit den Bildern.
»Was soll ich machen?«, fragte Miriam forsch, doch Enzig kannte ihre Stimme. Sie klang angestrengt und eine Spur zu hoch. »Du verrätst deinen Namen ja nicht, Geeeert.« Enzig zog intuitiv den Kopf ein, er wusste, das war zu viel.
»Du blöde Gans«, schrie