Was bleibt uns zur Erforschung des Willens Gottes? Es bleibt uns erstens sein Wort und das Dogma, das die Offenbarung – sein Wort – zu fassen versucht hat, damit es nicht verloren geht. Das Zweite ist die Situation. Auch durch die Situation spricht Gott zu mir. Schließlich unterliegt alles der Vorsehung.
Im Licht des Wortes Gottes gibt es auch Traditionen, gewachsene Dinge, die kein Mensch so ohne weiteres über Bord schmeißt, von denen man aber sagen kann, sie sind gewachsene Dinge. Sie waren sehr oft eine Antwort auf eine Situation, die anders war als die unsrige. Da gilt es abzuwägen, was anders geworden ist, wo heute die Gewichte liegen. Die Situation ist in der Welt nicht überall gleich. Selbst in Nord- und Südtirol gibt es unterschiedliche Voraussetzungen. Anderswo sind die Unterschiede noch größer.
Da gibt es nur die Bitte an den Heiligen Geist, dass er uns befähigt, das Richtige zu finden. Der Geist hat aber grundsätzlich beschlossen, zu wehen und zu fließen, wo er will. Er fließt nicht nur aus den Röhren der Autorität. Er lässt sich nicht fassen, wie man Quellen fasst, und dann durch Rohre leiten.
Da ist es notwendig, dass man in der Kirche kreisende Antennen hat, die alles auffangen, was sich rührt. Ohne kreisende Antennen kann man die Kirche nicht in die Zukunft steuern. Raketen zur Abwehr genügen nicht. Wenn man die Kirchengeschichte anschaut, sind geistige Erneuerungen immer von unten gekommen, nicht von oben. Es gibt keine Zukunft, wenn das Schöpferische kein Recht mehr hat. Darum sehe ich manchmal eine Gefahr, wenn Autorität überbetont wird. Wir wissen, dass in einer autoritär geführten Schulklasse vom Lehrer her das Kreative stirbt. Es braucht eine gewisse Atmosphäre menschlicher Zuwendung und menschlichen Zutrauens, damit Schöpferisches blühen kann. Wenn die Kirche überstark zentral geleitet und dirigiert wird, besteht Gefahr, dass das Schöpferische zu kurz kommt. In Sowjetrussland hat sich gezeigt, dass nur dort, wo Initiative da war, Neues geschaffen wurde. Die Privatgärten haben das Volk ernährt.
Selbstverständlich ist uns allen klar, dass Ämter in der Kirche sein müssen. Ich bin selber eines, und so groß ist der Unterschied zwischen Pfarrer und Bischof auch nicht. Jeder von uns hat nur ein bestimmtes Maß an Begabung, andere Begabungen fehlen einem. Es gibt Bereiche, wo einem die Erfahrungen fehlen, die Einbeziehung der ganzen Kirche ist darum eine Notwendigkeit. Schöpferisches Denken kann nicht im Verwaltungswege besorgt werden, aber ohne schöpferisches Denken gibt es keine Zukunft. Die Ämter sind wichtig. Wir wissen aber, dass sie manchmal schlafen. Und wenn sie schlafen, schlafen sie traumlos. Wer an die Zukunft denkt, kann neben dem Glauben an das Ewige, dem Gespür für das Gewachsene und die gegenwärtige Realität, neben der Treue zur Tradition und zum gesunden Hausverstand nicht ganz auf Träume verzichten. Vielleicht haben die Leute den Eindruck, dass wir etwas traumlos leben.
Die sechs Geleise in die Zukunft
Ich lade Sie ein, mit mir auf den Bahnhof der Kirche zu gehen, wo die Züge in die Zukunft zusammengestellt werden. Auf dem Bahnhof der Kirche kommen viele Züge an, manche auch mit Verspätung. Aber viele fahren auch ab, ab in die Zukunft. Was gibt es auf diesem Bahnhof für Geleise in die Zukunft der Heimatkirche, hoffnungsvolle Geleise in die Zukunft?
Geleise in die Tiefe
Das erste Geleise ist das Geleise in die Tiefe. Wir haben sicher eine Kirche mit einer gewissen Krise. Aber wann hat es schon eine Kirche ohne Krise gegeben? Unsere Kirche braucht eine Wende nach innen. Selbst in den größten Verfallszeiten der Kirche, im 15. Jahrhundert, waren Geleise da, die in die Zukunft gelegt wurden. Die Nachfolge Christi wie andere spirituelle Bewegungen waren ganz gewiss Geleise in die Zukunft. Karl Rahner hat gesagt, die Kirche der Zukunft muss eine mystische Kirche sein, oder sie wird weitgehend nicht sein. Die Kirche braucht Unterflurtrassen, in die Tiefe verlegte Geleise. Auf diesen Geleisen fahren die Züge ganz still und unsichtbar, aber auf lange Sicht wirksam. Solche Geleise sind: Bibel, Schriftlesung; die Zentren der Ordenstradition, die alten Orden, so wie sie gewachsen, bis zum Karmel, werden bedeutsam bleiben. Dazu gehören auch Wallfahrten, schlichte einfache Wallfahrten. Das sind Unterflurtrassen der Kirche, unabdingbare tragende Geleise in die Zukunft.
Geleise in die Weite
Als Zweites möchte ich die Geleise in die Weite nennen, in die geistige und in die pastorale Weite. Da müssen wir Züge mit Aussichtswagen zusammenstellen. Für die Zukunft braucht die Kirche Menschen mit Horizont, sonst werden wir abgestellt, wie eine Sekte. Wir müssen auf den Hauptstrecken bleiben, uns nicht auf Nebengeleise abdrängen lassen. Das können wir aber nur, wenn wir Menschen mit Horizont, mit geistiger Weite haben. Es braucht eine wache und wachsame Auseinandersetzung mit dieser Welt, in der wir leben. In einer Welt, die alle zehn Jahre ihr Wissen verdoppelt, brauchen wir Menschen mit Horizont, mit Kenntnissen und Kompetenz. Wir können selbst nicht alles wissen, müssen aber eine große Offenheit gegenüber allem bewahren. Die Kirche braucht geistig wache Leute in allen Bereichen. Wir brauchen darum in der Kirche einen Zug, der in Richtung eines Bildungsstandes fährt. Wir brauchen eine gute Theologie und dabei eine Unterscheidung zwischen dem, was wesentlich ist, und dem, was unwesentlich ist.
Wir brauchen Geleise in eine pastorale Welt, weil heute viele, viele Menschen auf dem Weg sind. Die Schäflein weiden nicht mehr in der grünen Mulde. Viele sind am Rande, viele am Wege. Es ist nicht alles in das Schema der praktizierenden Katholiken einzuordnen. Eine Frage ist die Zulassung zu den Sakramenten von wiederverheirateten Geschiedenen. Es sind oft gute Leute. Die Statistik gibt nicht die geistige Situation unserer Leute wieder.
Vergessen wir nicht auf die Zusammenstellung von Zügen pastoraler Weite. Wir müssen schauen, dass wir den Leuten nicht unnötigerweise das Einsteigen in die Züge erschweren oder verweigern. Wir müssen in der Seelsorge auch Leute ansprechen, die nicht zu den treuen Sonntagsgottesdienstbesuchern zählen. Der Schafhirte auf der Alm hat die Schafe während der Alpungszeit einige Male gesalzt, damit sie nicht ganz wild werden. Wir werden auch mit ähnlichen Formen und ähnlichem Erfolg in der Pastoral zufrieden sein müssen (Saisonchristen), einige Begegnungen und etwas „Salz“, wonach sie Verlangen haben, damit sie nicht ganz „wild“ werden.
Geleise in die Geborgenheit
Auf dem Bahnhof der Kirche der Gegenwart müssen Geleise in die Geborgenheit angeboten werden. Christentum besteht gewiss nicht nur in Streicheleinheiten. Es gibt aber eine unausrottbare Sehnsucht des Menschen nach Geborgenheit. Ich glaube, dass dieses Angebot an Geborgenheit zutiefst dem entspricht, was der Herr gesagt hat, aber in der Kirche von heute zu wenig gepflegt wird. Wir sind unzählige Male in den Beichtstühlen gesessen. Was hat es da für Fixierungen gegeben. Für zahlreiche ganz brave Christen ist die Todsünde der normale Zustand gewesen, aus dem sie vielleicht zu Ostern, Portiunkula, Allerheiligen, Weihnachten herausgekommen sind. Wir haben die Züge in die Geborgenheit blockiert.
Züge in die Geborgenheit sind deshalb so wichtig, weil die Menschen von heute in einer entbergenden Welt leben. Schauen Sie die Kinder an, die aus zerbrochenen Ehen kommen. Schauen Sie die Städte an mit ihrer Dichte und ihrer Hast. In diesem Vielerlei gibt es eine Entbergung durch Vermassung und Isolation. Je mehr die Zusammenballung der Menschen erfolgt, umso mehr gibt es Isolation, die Entbergung ist, mangelnde Geborgenheit. Dann gibt es Entbergung durch ständige Überproblematisierung. Wenn der Glaube immer nur ein Problem ist, dann geht einem das auf die Nerven. Es gibt dann Entbergung durch optische Kaskaden und Lärm, durch mangelndes Wertebewusstsein. Werte bieten Geborgenheit. Verfall der Werte nimmt dem Menschen die Heimat. Dann gibt es die Entbergung durch praktischen Gottesverlust. Makaber und symbolisch zugleich ist es, dass das Urbild der Geborgenheit durch Kultur und Theologie herauf der Mutterschoß ist. Dies ist der gefährlichste Ort heute. Nicht in Kroatien, nicht im Zweiten Weltkrieg, nicht in Somalia starben und sterben die meisten Menschen, sondern im Mutterschoß. Deshalb muss die Kirche auf dem Bahnhof der Gegenwart Züge in die Geborgenheit anbieten. „Schalom“4 drückt