Gefragt war er nicht bloß als glänzender Redner, sondern immer auch als Bischof, der für alle da ist und Fenster öffnet hin zu dem Geheimnis, das wir Gott nennen.
Es gibt in der Biografie von Reinhold Stecher noch einen kaum wahrgenommenen Bereich, der für sein gesamtes Wirken bedeutungsvoll wurde. Nach seiner Priesterweihe hat er neben seelsorglichen Aufgaben über mehrere Jahre hinweg an einer Dissertation über die Weisheitsliteratur im späten Judentum gearbeitet. Diese zum Teil erst im zweiten und ersten Jahrhundert vor Christus entstandenen Bücher des Alten Testamentes zielen auf die Vermittlung von Lebenswissen, das zum einen in der Glaubenserfahrung Israels und zum anderen im Gespräch mit der zeitgenössischen Kultur wurzelt. So will der Verfasser des Weisheitsbuches den Gebildeten seiner Zeit zeigen, dass sein Glaube echte Weisheit ist, und den Glaubensgenossen sagen, dass ihr Glaube der philosophisch-heidnischen Welt ebenbürtig ist. Im Buch der Sprüche geht es um Lebensbewältigung im umfassenden Sinn, oft in enger Berührung mit der Weisheit Ägyptens und des Zweistromlandes. Zentrales Thema ist die menschliche Existenz unter individuellen, gesellschaftlichen und religiösen Gesichtspunkten, aber auch die unbelebte Natur, Pflanzen- und Tierwelt. Aber alles steht unter der großen Überschrift „Initium sapientiae est timor domini“ – „Der Anfang aller Weisheit ist die Achtung vor dem Herrn“ oder frei übertragen „Die Kenntnis des Heiligen ist Anfang und Wurzel aller Erkenntnis und Bildung“. Der Weise ist ein Mensch, der überlegt, sich geschickt und sachkundig verhält, der klug und kundig das Leben bewältigt und meistert. Die Sprache der Weisheit ist eine poetische, die primär nicht Wissen, sondern gläubige Lebenserfahrung vermitteln will, oft in kurzen und prägnanten Sprüchen. Diese äußerst knappen Hinweise auf die Weisheitsliteratur des Alten Testamentes nehmen sich beinahe wie ein Porträt von Reinhold Stecher aus! Vergeblich sucht man in seinem schriftlichen Nachlass nach wissenschaftlichen Arbeiten, aber hinter allem, was er gesprochen und geschrieben hat, blitzt immer wieder ein großes und breitgefächertes Wissen auf. Kurze Hinweise auf bedeutende Gestalten der Humanwissenschaften, der Literatur und Theologie legen Zeugnis davon ab. Mit „wachem Geist“ suchte er in den verschiedensten Themenbereichen nach einer tragfähigen Synthese von Glaube und Vernunft mit dem Ziel, den Menschen zu dienen, wie er es in seinem programmatischen Wahlspruch „Dienen und Vertrauen“ zum Ausdruck gebracht hat.
Reinhold Stecher war auch mit Leib und Seele Tiroler. Er kannte Land und Leute wie wenig andere. Er hat das Gespräch mit Universitätsprofessoren und Künstlern genauso gesucht und gepflegt wie mit einfachen, kranken und alten Menschen. Daher waren seine Vorträge auch wirklich geerdet, ganz gleich, vor welchem Kreis er gesprochen hat.
Neben vielen anderen Ehrungen wurde er im Jahr 1994 „für seine Verdienste um die Schaffung eines Klimas der Toleranz und des Dialogs“ von der Universität Innsbruck mit dem Ehrendoktorat der Philosophie ausgezeichnet.
„Kirche im Wandel der Zeit“, „Natur und Heimat“, „Christsein in der Welt von heute“, „Berufe und Berufung“, „Wachsen und Reifen“ und „In Sorge um das Humanum“ sind die Themen dieses Buches. Den Abschluss bildet die Festansprache zum 50- und 25-jährigen Bischofsjubiläum von Kardinal Franz König und Weihbischof Helmut Krätzl im Rathaus von Wien.
Die hier abgedruckten Vorträge und Ansprachen wurden in der Zeit von 1985 bis zum Jahr 2012 gehalten und tragen selbstverständlich auch Spuren dieser Zeit- und Gesellschaftssituation. Wenn sich einzelne Bilder und Gedanken wiederholen, so ist das ein Hinweis darauf, welches Gewicht sie für Reinhold Stecher haben.
Jeweils am Beginn der einzelnen Kapitel werden Adressaten und Themen vorgestellt.
Innsbruck, im Herbst 2013 | Klaus Egger |
Kirche im Wandel der Zeit
In seinem langen Leben hat Reinhold Stecher ganz verschiedene Kirchenerfahrungen gemacht. In seiner Jugend war es die Kleruskirche, in der NS-Zeit die verfolgte Kirche, dann kam eine Kirche im Aufbruch bis nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Der gesellschaftliche Wandel in den Sechzigerjahren hat auch vor der Kirche nicht Halt gemacht und neue Problemsituationen mit sich gebracht. Gefragt war eine Kirche mit menschlichem Gesicht, eine Kirche, die den Menschen Heimat bieten kann. Als unermüdlicher Verfechter einer „offenen Kirche“, die niemanden ausgrenzt und sich den Fragen der Zeit stellt, nimmt Reinhold Stecher als Bischof immer wieder zu kirchlichen Fragen mit großem Freimut Stellung. Das sind aber keine Kampfansagen, sondern Ermutigungen für all jene, die den vom Konzil eingeschlagenen Weg weitergehen wollen: ein Text zum 25-jährigen Diözesanjubiläum (1989), in dem er zur Situation der Kirche Stellung bezog, und Vorträge vor Priestern und kirchlichen Mitarbeitern.
Rast unter dem Baum
25 JAHRE DIÖZESE INNSBRUCK
(1989)
„Das Senfkorn ist zwar das kleinste unter allen Samenkörnern, aber wenn es ausgewachsen ist, ist es das größte von allen Gartengewächsen und wird zu einem Baum, so dass die Vögel des Himmels kommen und darin wohnen …“
(Mt 13,32)
Mit dem Blick auf diese Stelle des Evangeliums darf ich wohl nicht nur die Kirche als Ganzes, sondern auch die Kirche von Innsbruck im Besonderen mit einem Baum vergleichen. Es ist ein uralter Baum in unserer Heimat Tirol, unter den ich mich da niederlasse, fast so alt wie jene berühmten, gewaltigen Lärchen im Ultental, für die die Wissenschaftler ein Alter von beinahe 1800 Jahren errechnet haben sollen.
Da sind 25 Jahre Diözesangeschichte natürlich nichts. Aber es sei mir erlaubt, mich zu diesem Anlass unter diesem Baum hinzustrecken und über dieses merkwürdige Gebilde nachzudenken, den alten Stamm mit der rissigen Rinde, die ausladenden Äste und das doch immer wieder sich erneuernde Grün des religiösen Lebens, durch das die Sonne schimmert.
Romantisches Träumen erlaubt dieser Baum nicht. An seiner Krone zerren die Wetter und Winde der Zeit, und beides fällt von ihm herunter: Früchte und dürre Äste.
Aber es tut gut, die Hektik des kirchlichen Alltags mit dem verwirrenden Vielerlei des Aktuellen zu unterbrechen, und einmal dem lebendigen Ganzen nachzusinnen, das dieser breitausladende Baum des Gottesreiches darstellt, die tragenden Äste hinaufzuverfolgen, wie sie sich verteilen, verzweigen und überschneiden und schließlich doch irgendwo eine gemeinsame Gestalt finden, wie es bei jedem Baume ist.
Es geht mir nicht um Analyse und exakten Überblick. Mit den Instrumenten der Statistik und der Sonde des Soziologen vermag ich nicht besonders gut umzugehen. Es gelingt mir nicht, distanziert-exakt prüfend hinaufzuschauen in diese Lebendigkeit der Strukturen, die man sieht. Es geht mir auch um das, was man nicht sieht.
Natürlich müsste man sich darüber klar werden, an welchen Ästen die Früchte zukunftsträchtig schwerer hängen, oder wo ein Ast in einen Schattenwinkel hineinwächst, in dem nicht viel gedeihen kann. Wer einen