Vielleicht darf ein immerhin alter Bischof auch noch ein Drittes einbringen: ein Stück Erfahrung. Erfahrung aus Tausenden von Briefen und Gesprächen, aus dem Besuch von Hunderten von Pfarrgemeinderäten und Gremien, aus unzähligen Kontakten mit allen Arten und Gruppierungen beruflicher und weltanschaulicher Prägung, aus vielen tausend Beichten, aus der Geschichte seelsorglicher und organisatorischer Initiativen, aus ihrem Gelingen und Scheitern, und aus einer großen Literatur.
Aus allem zusammen ergibt sich ein Dienst der Ermutigung, der – so Gott will – nicht in Illusionen, sondern in jener Wahrheit gründet, die frei macht.
Das musste ich vorausschickend bedenken, damit Sie, liebe Schwestern und Brüder, wissen, wie ich meine Rolle hier verstanden wissen wollte.
Anruf aus der Offenbarung
Gerade wenn man ein so schwieriges Feld christlicher Initiative vor sich hat, ist es wichtig, sich mit den in der Heiligen Schrift vorgezeichneten Grundlinien des Heilswirkens vertraut zu machen.
Und ich möchte dies vor allem hinsichtlich einer Spannung tun, die immer wieder, bei jedem Dienst des Christen an dieser Welt auftritt und die vielleicht beim sozialen Engagement ganz besonders ausgeprägt sein kann, wie die Geschichte beweist. Ich meine die Spannung zwischen horizontal und vertikal, zwischen Glaubenstiefe und gesellschaftlichem Einsatz, zwischen Formung der Überzeugung und Engagement und sozialpolitischem Alltag, zwischen Meditation und Aktion.
Vertikales
Es gibt in der Kirche entsprechend der Verschiedenheit der Aufgaben, Herausforderungen und Geistesgaben verschiedene Akzentuierungen von horizontal und vertikal, und es muss sie immer geben. So braucht jede Zeit, auch die unsere, den spirituellen Akzent, das Mühen um persönliche Tiefe, das Ergreifen der ewigen Hoffnung, der unendlichen Motivation und des tröstenden Geheimnisses. Jeder Karmel, jede charismatische Gruppe, jeder meditative Fotoband verfolgt diesen Akzent. Natürlich heißt das nicht, dass Christen mit diesem Akzent sozial desinteressiert sein müssten. Die frommen Frauen im Karmel wissen über Sandlerschicksale oft besser Bescheid als so mancher Sozialbürokrat. Aber gerade eine Zeit wie die unsere schreit nach dieser vertikalen Linie. Ich werde noch in einem anderen Zusammenhang darauf zurückkommen.
Horizontales
Und dann gibt es den anderen Akzent, nach dem die Situation unserer Welt auch schreit, den Akzent, den Sie in besonderer Weise zu verwirklichen suchen: das konkrete Sich-Kümmern um die Gestalt der Welt, um die Wahrung familiengerechter Löhne und Freizeitordnungen, um die Chancen der Frauen in der Arbeitswelt und die Asylgesetzgebung, um ein menschliches Betriebsklima und die Eindämmung des Nur-Ökonomischen, um das Fingerlegen auf das Unrecht und die Lücken der sozialen Sicherheit, um die Erhaltung eines Gesprächsklimas ohne Rückgriff auf Klassenkampf-Mentalitäten, um die Situation der Dritten und ehemaligen Zweiten Welt. … Aber auch dieses Engagement kann und muss verbunden sein mit dem Gang in die Stille, mit dem Lesen der Schrift, und zwar der ganzen, nicht nur jener Stellen, die man für das Sozialengagement auswerten kann. Auch beim Dienst an der Welt wissen wir uns auf die Quellen des Heils hin verwiesen.
Extremes
Und neben diesen sinnvollen und durchaus berechtigten Akzentuierungen gibt es natürlich auch die Entartung in die Extreme, eine Entartung, die sich gegenseitig hinaufgeschaukelt hat und an der heutigen, leider nicht von der Mitte geprägten Situation der Kirche nicht unschuldig ist.
Da gibt es den frömmelnden Christen, der sich in das Schneckenhaus seiner Individualität zurückzieht, in sein Privatissimum einer heute oft recht krausen Religiosität, die sich eben von der echten Mystik unterscheidet. Da spielen nicht selten Privatoffenbarungen und Visionen aller Art, Bücher aus verdächtigen Verlagen, Drohbotschaften und süße Zwiegespräche, aus denen irgendeine fromme Seele verbindliche Weisungen für andere formuliert, eine bestürzend wichtige Rolle. Da befasst man sich mit liturgischen oder anderen nebensächlichen Details mit einer Hingabe, die anderer Dinge würdig wäre. Im moralischen Bereich bewegt man sich zum überwältigenden Teil nur mit persönlichen Problemen ohne Sinn für eine positive Weltverantwortung. Die beschränkt sich auf einen ausgeprägten „Böse-Welt-Komplex“, und dieser wiederum äußert sich in aggressiven Klageliedern. Von dieser Extremrichtung her werden sozial engagierte Christen schnell einmal als „links“ eingestuft, und in Brasilien geht das ganz schnell.
Es ist überflüssig zu bemerken, dass diese Art christlicher Selbstverwirklichung mit der Sache Christi so viel zu tun hat wie die Mozartkugel mit Mozart: süßer Kram in Silberpapier …
Und dann gibt es natürlich auch das andere Extrem: den von frommen Anwandlungen unbeschwerten Sozialaktivisten. Er übt sich in Aktionen, nie in Kontemplationen, in Protesten, aber nicht im Gebet, in Öffentlichkeitserklärungen, aber nie in Ergriffenheiten. Es ist noch nicht so lange her, dass ich in meiner Eigenschaft als Caritasbischof der Auffassung entgegentreten musste, eine Berufstätigkeit im Rahmen der Caritas habe mit der Zugehörigkeit zur Kirche und zum Stehen im Glauben überhaupt nichts zu tun … Bei solchen Einstellungen kann es dann ohne weiteres sein, dass man Aktionsprogramme entwirft, die chemisch rein von jedem religiösen Gedanken sind, dass man beim Impressum nachschaut, ob es nicht aus Kuba oder Peking stammt. Und wenn schon ein Gottesdienst gefeiert wird, dann ertönt sogar noch beim Kommunionausteilen ein Song gegen Abfangjäger …
Auch das ist extrem und eine Verfälschung des berechtigten Anliegens. Und in Parallele zur Mozartkugel möchte ich bemerken, dass diese Form christlichen Weltdienstes mit dem innersten Anliegen des Welterlösers so viel zu tun hat wie eine Silvesterknallerei mit den Feuern von Pfingsten …
Bei den Propheten
Die Vertikale und die Horizontale müssen trotz berechtigter Akzentuierungen vereint bleiben, und ich weiß mich in diesem Punkte sicher mit Ihnen eins. Aber zur Vertiefung dieser Zusammenschau der beiden großen Stoßrichtungen des Christentums schauen wir noch einmal hinein in die Offenbarung, und zwar dorthin, wo beides großartig vorgezeichnet ist – im Engagement der Propheten.
Nathan spricht in den Nächten mit dem Herrn, aber er liest auch David die Leviten wegen seines asozialen Verbrechens. Elias betet im Schweigen des Berges, aber er tritt auch gegen die kalte, brutale Enteignung des Freibauern Nabot auf. Amos spricht von Gott, der die Finsternis zum Frührot verwandelt, aber er fährt rücksichtslos ab mit einem Kult, der nur noch asoziale Einstellungen fromm tarnt: „Fahrt ab mit euren Festen, euren Weihrauch kann ich nicht riechen, euer Harfengeklimper nicht mehr hören (vgl. Am 5,21ff) … Wie Wasser flute das Recht, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach …“ (vgl. Am 5,24). Und so geht es weiter bei Hosea und Jesaia und den anderen. Es steht immer nebeneinander und miteinander verflochten – das „Heilig, heilig, heilig“ und die wache Gesellschaftskritik.
In der Schrift ist horizontal-vertikal von Anfang an vereint und unlösbar, auch theologisch unlösbar miteinander verbunden. Gottesdienst ist ohne Weltdienst nicht möglich, Frömmigkeit nicht ohne Engagement für den anderen.
Am Beginn der Arbeiterbewegung, unter Msgr. Joseph Cardijn, gab es übrigens einen Begriff, der diese Einheit in einem Schlagwort zum Ausdruck brachte: „témoignage chrétien“, christliches Zeugnis. Das ist weder bloßes privates Frommsein noch bloß humane Aktion. Der Begriff ist zeitlos aktuell.
Anrufe aus der Situation der Zeit
Nach diesem Blick auf die Offenbarung, der uns in unserer grundsätzlichen Linie bestätigen und bestärken soll, erlaube ich mir nun noch einige Bemerkungen, die mehr vom Blick auf