Mein Onkel der Leopardenmann. Kurt Arbeiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kurt Arbeiter
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783702236472
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mit lustig in den staubigen Kanzleien der Provinzgarnisonen. Er überprüft die Abrechnungen der Einheiten, mit kalten Augen hinter kleinen Brillengläsern. Und wenn er grobe Unstimmigkeiten findet, holt er die Schergen vom gefürchteten Militärtribunal. Bandundu macht keine Witze, wird mir klar.

      „Ein Krokodilmann“, sagt er noch einmal, als zitiere er einen Paragrafen aus dem Leitfaden zur Verwaltung des Verpflegsgeldes.

      „Das gibt’s“, murmelt der dicke Oberstleutnant Mabelo von den kongolesischen Landstreitkräften schläfrig. Dann döst er weiter.

      Major Essebi nickt.

      Der Oberst Laurentiu holt Luft zu einer empörten Entgegnung, aber Bandundu funkelt ihn warnend an und fährt fort: „Ein Krokodilmann taucht als Mensch unter und verwandelt sich unter Wasser in ein Krokodil. Es gibt viele davon an den Flüssen. Und welche, die sich in andere Tiere verwandeln können. Mein Onkel zum Beispiel, ein Bruder meines Vaters, war ein Leopardenmann. Als ich klein war, hat er uns in der Früh oft eine Gazelle gebracht, die er nachts gejagt hat.“

      „Lebt er noch?“, frage ich schnell, Laurentius anhaltende Sprachlosigkeit nutzend.

      Bandundu schüttelt bedauernd den Kopf. „Sie haben Jagd auf ihn gemacht und ihn erschossen.“

      „Als Mensch?“

      „Als Leopard. Normalerweise schleppen sie sich in ein Versteck, wenn sie getroffen werden, und nehmen dort mit letzter Kraft noch einmal ihre menschliche Gestalt an, ehe sie sterben. Aber meinen Onkel haben sie genau ins Herz getroffen. Er ist als Leopard gestorben.“

      „Mein Beileid.“

      „Danke.“

      Das bringt das Fass des Oberst Laurentiu zum Überlaufen. „Jetzt aber Schluss mit dem Unfug! Das ist der gleiche Scheiß wie in meiner Heimat mit den Wölfen und den Fledermäusen! Ich glaube nichts von dem Quatsch. Ich akzeptiere nur Dinge, die sich wissenschaftlich erklären lassen.“

      Die Kongolesen zucken ungerührt die Achseln.

      „Du sagst also, kein Mensch kann dreißig Minuten ohne Sauerstoff überleben?“, frage ich Laurentiu.

      „Genau. Unmöglich!“

      „Na bitte“, sage ich. „Damit haben wir den wissenschaftlichen Beweis. Es muss ein Krokodilmann gewesen sein. Ein Krokodil hält es ohne Weiteres eine halbe Stunde aus.“

      Bandundu beugt sich vertraulich zu mir. „Ich habe da ein Projekt, Herr Oberstleutnant“, sagt er halblaut.

      „Ich bin ganz Ohr.“

      „Ich schreibe an einem Buch über diese Tiermenschen. Wir müssen sie ausfindig machen. Die müssen uns helfen, verstehen Sie?“

      Ich schüttle vorsichtig den Kopf.

      „Ich will damit sagen …“, Bandundu zögert kurz, „… wir müssen sie in die Armee integrieren.“ Er mustert mich fast ängstlich, gewärtig, ein spöttisches Grinsen um meine Mundwinkel flackern zu sehen.

      Es ist wohl dieser Blick, der es mir ermöglicht, todernst zu bleiben. „Verdammt gute Idee, Herr Oberstleutnant.“

      Die Armee der Demokratischen Republik Kongo hat noch nie gewonnen. Ist immer nur davongelaufen. Vor allen. Seit Jahren halten ein paar hundert Rebellen in Gummistiefeln zwanzigtausend kongolesische Soldaten in der Provinz Kivu in Atem und fügen ihnen eine Schlappe nach der anderen zu. Jahrzehntelang haben Berater aus Europa, Amerika, Russland, China versucht, aus diesem korrupten Haufen eine schlagkräftige Truppe zu machen. Vergebens. Bandundu, der kühle Rechner, hat es erkannt: Der ganze westliche Firlefanz wird nie funktionieren. Die Kongolesen müssen sich selbst helfen. Die Krokodilmänner müssen her.

      „Wenn ich fertig bin, übergebe ich mein Buch dem Präsidenten“, flüstert er mir zu.

      „Was heckt ihr beiden da schon wieder für abenteuerliche Geschichten aus?“, bellt der Oberst Laurentiu.

      „Nichts“, sagt Bandundu.

      „Nichts“, sage ich. Schließlich handelt es sich um ein militärisches Geheimnis.

      Ehe Laurentiu nachhaken kann, tritt Monsieur Maisha an unseren Tisch. Das Schwein sei jetzt fertig.

      Als ich mich durch die knusprige Kruste säble, kommt mir ein beunruhigender Gedanke: Ob es wohl versucht hat, sich zurückzuverwandeln, als ihm Monsieur Maisha die Kehle durchgeschnitten hat? – Es gibt keine Schweinemenschen, beruhige ich mich. Aber ich wage nicht, den Oberstleutnant Bandundu danach zu fragen. Aus Angst, er könnte mit vollem Mund antworten: „Natürlich. Meine Tante zum Beispiel, die hier in Kikwit …“

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      Tante?

      1Mützig: populäres, helles französisches Bier

      2Mundele, lingala: ein Weißer

      3FARDC: Forces Armées de la République Démocratique du Congo, die kongolesischen Streitkräfte

       MALHEUREUSEMENT

       EINE BEDAUERLICHE GESCHICHTE

      Kisangani, das ehemalige Stanleyville, war einst einer der wichtigsten Handelsplätze und Verkehrsknotenpunkte am Kongo. Von hier aus ist der große Fluss schiffbar. Ältere Menschen erinnern sich noch an die Zeit, als in Kisangani regelmäßig Passagier- und Frachtschiffe an- und ablegten, die Kräne quietschten und Eisenbahnzüge in Richtung Osten rollten. Nach fünfundfünfzig Jahren Unabhängigkeit ist davon nicht viel mehr übrig als eine Handvoll Einbäume. Malheureusement.

      „Schlau, wie du hier die Gegenströmung ausnützt“, sage ich zu dem Mann, der im Heck des Einbaums steht und das spitze Ruderblatt durch die braunen Strudel des Kongo zieht. Wir sind unterwegs zum rive gauche, dem pittoresken ehemaligen Villenviertel von Kisangani am linken Ufer des Kongo.

      Der schlaue Fährmann nickt zwischen angespannten Nackenmuskeln. „Malheureusement“, setzt er dann an, und ich wünsche mir wieder einmal, ich hätte den Mund gehalten.

      „Malheureusement“, „bedauerlicherweise“, ist der rituelle Auftakt jeder neuen Strophe des Großen Kongolesischen Klageliedes. Ich bin inzwischen überzeugt, dass so ziemlich jeder Kongolese spätestens bei der Erstkommunion (oder wahlweise der ersten Anprobe des Penisköchers) einen heiligen Eid ablegen muss, es sofort anzustimmen, sobald ein Mundele die geringsten Anzeichen zeigt, sich für seine Lebensumstände zu interessieren. Ein schlichtes „Guten Tag“ kann schon verhängnisvoll sein. Auf das „Malheureusement“ folgt gewöhnlich eine Schilderung der eigenen trostlosen Lage – die kranke Frau und die drogensüchtigen Kinder etwa – gefolgt von einer Darstellung der unhaltbaren Wirtschaftssituation, der Korruption, des Krieges, kurz: des Leids des Schwarzen Kontinents. Und über all dem schwebt ein großer, stiller Vorwurf. Denn wir wissen doch beide, mein Bruder mit der trügerisch unschuldigen, weißen Haut, wer in Wahrheit schuld ist an der ganzen Misere hier. Und daher hielte ich einen kleinen Wiedergutmachungsbeitrag hier und jetzt in meine aufgehaltene Hand für das Mindeste.