Entwickelte sich das politische Geschehen auch noch so dramatisch, privat stand eine große Veränderung im Leben meiner Mutter bevor: »Dann stand eines Tages Franz Kunz vor der Tür. Er musste nicht mehr ständig in Brünn sein, sondern pendelte zwischen Brünn und Aussig hin und her. Wir hatten uns lange nicht gesehen, aber ich erkannte sofort, dass etwas passiert war, bat ihn herein und fragte, was geschehen sei. Er hatte Tränen in den Augen und sagte ganz leise, als wolle er es nicht aussprechen, nicht in Worte fassen, dass man seine Mutter nach Theresienstadt gebracht hatte. Der Vater lebte schon lange nicht mehr, die Mutter galt als Jüdin, und als Witwe hatte sie nicht mehr den Schutz, den die jüdischen Teile in Mischehen noch genossen. Ich war erschüttert. Von da an sahen wir uns öfter, meine Mutter hatte ihn aufgefordert, zu uns zu kommen, wenn er sich einsam fühlte. Ich glaubte, dass er sehr gern kam und es ihm guttat, wenn er sich bei uns aussprechen konnte.«
Ein paar Jahre später heirateten die beiden. All die Aufregungen und Kriegswirren lösten bei der Großmutter meiner Mutter im Oktober 1943 einen Schlaganfall aus. Im Februar 1944, wenige Tage nach ihrem Geburtstag, folgte ein zweiter Schlaganfall. Tags darauf starb sie.
Eine Einladung von Onkel Walter nach Wien brachte etwas erfreuliche Abwechslung in das triste Leben in Aussig. Meine Mutter erinnerte sich an zwei wunderbare Aufführungen in der Staatsoper. Später ist das Opernhaus bombardiert worden. Zurück in Aussig, kam die niederschmetternde Nachricht, dass die Briefmarkenfirma Julius Kunz – wie viele andere »nicht kriegswichtige Betriebe« – schließen müsse. Inhaber und Angestellte wurden zum Kriegsdienst eingezogen.
Auf Weisung der Gestapo kam meine Mutter in ein Arbeitslager nach Lobositz an der Elbe. Franz Kunz besuchte sie dort zweimal wöchentlich. Er drängte meine Mutter zur Heirat, die auf dem Standesamt am 21. Dezember 1944 stattfand. Eine kirchliche Trauung war nicht möglich, da das Aufgebot drei Wochen aushängen musste, meine Mutter aber von der Gestapo nur zwei Tage für die Hochzeit und drei Tage für Weihnachten zugestanden erhielt. Die Bürokratie in der katholischen Kirche schien unüberwindbar. Die »Hochzeitsreise« meiner Eltern führte in einen kleinen Ort südlich von Prag. Die Weihnachtstage 1944 wurden in Aussig verbracht. Erst jetzt, nach ihrer Eheschließung, konnte meine Mutter bei der Gestapo um Versetzung nach Aussig ansuchen. Und am 3. Jänner 1945 trat sie ihren Zwangsarbeitsdienst beim Aussiger Werk der Schering AG an. Sie konnte nun zu Hause mit Mutter und frischgebackenem Ehemann wohnen.
Hochzeitsfoto meiner Eltern Franz und Ilse Kunz 1944 in Aussig.
Im Jänner und Februar 1945 häuften sich die Luftangriffe auf Aussig, wobei meine Mutter immer häufiger Tiefflieger registrierte: »Man wurde angewiesen, sich sofort flach auf den Boden zu legen, sobald man einen solchen Tiefflieger über seinem Kopf bemerkt. An einem lauen Vorfrühlingstag begab ich mich nach Arbeitsschluss wie immer auf den Heimweg, freute mich auf die frische Luft und das erste schüchterne Vogelgezwitscher, als ich gleich zwei Flieger mit lautem Getöse herannahen hörte. Erschrocken schaute ich himmelwärts und erkannte den Sowjetstern, so tief flogen die beiden! Ich erinnerte mich reichlich spät an die Anweisung, ließ mich platt auf den Bauch fallen und verharrte unter einem Gebüsch, bis das Geräusch sich langsam entfernte. Die beiden russischen Flieger hatten abgedreht, ich sprang auf und rannte, so schnell ich nur konnte, in Richtung meiner Wohngegend. Es lag aber noch eine beachtliche Strecke vor mir, und auf einmal waren sie wieder da, die Flieger. Diesmal ließ ich mich schneller fallen, blieb wieder liegen, bis das Geräusch leiser wurde, und rannte weiter. Noch einmal holten sie mich ein, kreisten buchstäblich über mir, die ich natürlich wieder hingestreckt dalag. Ich hatte schon gelernt, diesmal ging es viel rascher als das erste Mal. Dann verschwanden sie endgültig und kamen nicht wieder.«
Im Luftschutzkeller erlebte man die Bombenangriffe auf Aussig. Ein wahres Inferno war der Angriff in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945. Meine Mutter und die anderen Hausbewohner spürten deutlich, dass es diesmal anders war als sonst, irgendetwas beunruhigte sie zutiefst: »Wir wussten nicht, was es war, wir fühlten es. Wir vernahmen die Motorengeräusche über uns hinwegbrausender Bomber, es mussten hunderte gewesen sein, aber es folgten keine Detonationen, die unser Haus erzittern ließen. Es war ruhiger, aber schlimmer, viel schlimmer, als ob wir den Tod neben uns spüren würden. Und es nahm kein Ende, es dauerte unendlich lang, wie uns schien. Wir hielten das nicht aus, trotz Warnrufen liefen einige Hausbewohner, darunter auch ich, hinauf, rissen die Haustür auf und wichen erschrocken zurück. Es war, als ob der Himmel bluten würde. Soweit das Auge reichte, war er tiefrot, um uns eine beklemmende Stille, die Geräusche ganz entfernt, aber noch beängstigender als sonst. Dann kam ein Wind auf, der sich bis zum Sturm gesteigert hat, es war die Hölle, aber sie musste irgendwo anders stattfinden. Wir untersuchten, aus welcher Richtung der Wind kam, dort musste es sein! Dresden, eine der schönsten Städte Deutschlands, man nannte sie ›Elbflorenz‹, mit herrlichen Barockbauten, dem berühmten Zwinger, der Frauenkirche, Semperoper etc. etc. In dieser Nacht wurde die Stadt durch britische und amerikanische Bomber vernichtet.«
Mehr als 200.000 Tote gab es und 12.000 zerstörte Gebäude. Menschliche Opfer lagen in den Trümmern ihrer zerbombten Häuser. Auf den Straßen Dresdens sah man geschrumpfte und verkohlte Leichen, die nicht mehr identifiziert werden konnten.
Im April 1945, als sich das Kriegsende abzeichnete, ging meine Mutter nicht mehr zu Schering arbeiten. Es kümmerte sich auch keine Gestapo mehr darum. Jetzt wollte jeder nur noch seine eigene Haut retten. Hitler hatte Selbstmord begangen und am 8. Mai 1945 wurde der Waffenstillstand ausgerufen.
Großadmiral Dönitz, seit dem Selbstmord Hitlers Oberhaupt von Nazi-Deutschland, teilte am Abend dieses 8. Mai 1945 über das Radio die Gesamtkapitulation der Wehrmacht mit. Um 23.01 Uhr war der Zweite Weltkrieg zu Ende. Nach sechs Jahren Krieg und Terror war ganz Europa in Schutt und Asche. Die politische, humanitäre und ökonomische Bilanz des Zweiten Weltkriegs war verheerend: 27 Millionen Soldaten waren gefallen; 25 Millionen Zivilisten, darunter sechs Millionen Opfer des NS-Rassenwahns, waren umgekommen; drei Millionen Menschen blieben vermisst. Deutschland, Japan, Großbritannien und Frankreich büßten ihre weltpolitische Bedeutung ein. Die osteuropäischen Staaten gerieten unter sowjetische Hegemonie. Und die USA sowie die Sowjetunion stiegen zu Weltmächten auf. Es begann der Kalte Krieg zwischen den neuen Weltmächten.
6 | Das Ehepaar Kunz zieht nach Wien: Von nun an geht’s bergauf |
Ilse und Franz Kunz verfolgten mit Melitta Beck, meiner Großmutter, in Aussig die stündlichen Radionachrichten. »Nicht Steine, Felsen fielen uns vom Herzen«, erinnert sich meine Mutter an den Zusammenbruch von Hitlers »Drittem Reich«. Aber Freude konnte die Familie noch keine empfinden, es war eine Erleichterung mit sehr viel Angst.
Zunächst wurde via Radio verordnet, weiße Fahnen aus den Fenstern zu hängen. Niemand wusste, was jetzt unmittelbar geschehen würde, man wollte nur verhindern, dass weiter geschossen wurde. Aber aus dem Erzgebirge zurückflutende SS-Truppen schossen aus Wut auf die mit weißen Fahnen gekennzeichneten Fenster! Unaufhörlich, Tag und Nacht, hörte man das Stampfen von Stiefeln. Man fragte sich: Sind das noch Deutsche oder schon Russen? Niemand traute sich, das Fenster zu öffnen. Natürlich hofften alle auf die Amerikaner. Als die Nachricht kam, die Straßen nach Westen seien verstopft, wusste man, was es geschlagen hatte – nämlich, dass die Russen vor Prag standen. Die Russen ließen zunächst die von den Deutschen verschleppten Ostarbeiter frei, die sogleich plündernd vor allem deutsche Wohnungen überfielen. Im Wohnhaus meiner Mutter wurden die Türen versperrt, schließlich hörte man täglich von Vergewaltigungen: »Bei allen Schwierigkeiten, die diese ungute und gefährliche Situation mit sich brachte, gab es auch ab und zu etwas zum Lachen. In einer Wohnung, in der ein mir bekanntes junges, sehr fesches Mädchen wohnte, ist ein junger Russe eingedrungen. Was er wollte, war nicht ganz klar, vermutlich Uhren suchen, die sie ja in Unmengen sammelten. Das Mädchen, das allein in der Wohnung war, zitterte am ganzen Leib vor Angst. Der russische Soldat, der das bemerkte, öffnete die Wohnungstür, ließ sie hinausgehen und verließ hinter ihr die Wohnung, ohne etwas mitzunehmen. Vor Erleichterung drückte das Mädchen dem Soldaten im Stiegenhaus die Hand und bedankte sich für die faire