Am Beginn einer solchen Arbeit steht naturgemäß die Ahnenforschung. Dabei kommt mir zugute, dass ich meiner Mutter Ilse (1919–2009) zu deren 80. Geburtstag den Abdruck ihrer Lebenserinnerungen unter dem Titel »Als Böhmen nicht mehr bei Österreich war« ermöglicht habe. Darin vermerkte meine Mutter quasi als Einleitung: »Meinem Sohn und meinem Enkel, deren Beharrlichkeit dieses Büchlein seine Entstehung verdankt, in Liebe gewidmet.« Und zum Schluss schrieb sie: »Eine eventuelle Fortsetzung der familiären Aufzeichnungen überlasse ich meinem Sohn, falls er einmal Lust dazu haben sollte.«
Jetzt habe ich Lust dazu und greife zunächst auf die Niederschrift meiner Mutter zurück, die – unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geboren – die beiden schrecklichen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus und Kommunismus, hautnah erlebte, ehe sie nach dem Zweiten Weltkrieg im zerbombten Wien unter schwierigen Bedingungen eine neue Existenz aufbaute.
2 | Als Böhmen nicht mehrbei Österreich war |
Der Erste Weltkrieg, an dessen Ausbruch vor 100 Jahren wir uns 2014 erinnert haben, hatte fatale Auswirkungen auf den weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts. »Die Urkatastrophe der Moderne« habe in einer Kettenreaktion weitere Katastrophen ausgelöst, formulierte der Generaldirektor des Österreichischen Staatsarchivs, Wolfgang Maderthaner. Die Nachkriegszeit mit ökonomischem Desaster und großer Depression war gleichzeitig eine Vorkriegszeit. Adolf Hitler brach den Friedensvertrag von Versailles, militarisierte die deutsche Gesellschaft, die von Massenarbeitslosigkeit geprägt war, und führte sein Land in den Faschismus. Der Zweite Weltkrieg war die logische Konsequenz. Als dessen Ergebnis kam Osteuropa unter sowjetischen Einfluss und der Kalte Krieg zwischen den neuen Weltmächten USA und UdSSR hielt die Menschheit jahrzehntelang in Atem.
Am Anfang dieser unheilvollen Entwicklung standen vor 1914 Imperialismus und Nationalismus als bestimmende Elemente der europäischen Mächte. Der Krisenherd auf dem Balkan wurde zum auslösenden Faktor des Ersten Weltkrieges. Dort unterstützte das zaristische Russland im Zeichen des Panslawismus die gegen Österreich-Ungarn und die Türkei gerichteten nationalen Strömungen vor allem in Serbien und in Bosnien-Herzegowina. Im Attentat von Sarajevo vom 28. Juni 1914 spitzte sich dieser Konflikt zu, der über die Juli-Krise zum Kriegsausbruch führte. Nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo lag die Initiative des Handelns bei Österreich, das Serbien für das Attentat verantwortlich machte. Der Verlauf des Ersten Weltkrieges darf als bekannt vorausgesetzt werden. Jedenfalls gab es Kampfhandlungen auf fast allen Kontinenten und Meeren, wenngleich der Schwerpunkt der militärischen Auseinandersetzungen zu Lande in Europa lag. Dabei waren die Regierungen und Oberkommanden ursprünglich davon ausgegangen, dass sich ein längerer Krieg wirtschaftlich gar nicht durchhalten lasse und der militärische Konflikt rasch beendet sein werde. In der Realität freilich hatten die industrielle und technische Revolution eine völlig neue Art der Kriegsführung ermöglicht. Zwischen 1914 und 1918 fielen 17 Millionen Menschen in einem brutalen Wettstreit der Vernichtung. Schließlich gingen die Entente-Mächte mit Hilfe der USA siegreich hervor.
Am 21. November 1916 war im Schloss Schönbrunn zu Wien Kaiser Franz Joseph I. im 87. Lebensjahr und 68. Jahr seiner Regentschaft gestorben. Sein 30-jähriger Großneffe Karl folgte ihm auf dem Thron nach. Er konnte das Blatt für die Habsburgermonarchie nicht mehr wenden. Der Erste Weltkrieg ging verloren, das Reich zerfiel. Das überkommene politische und soziale System war nicht nur in Österreich-Ungarn, sondern auch in Russland, Italien und Deutschland zusammengebrochen. Dynastien traten ab, Europa lag in Trümmern.
Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wurde von nationalen Antipathien zusammengehalten, die auch zu seinem Zusammenbruch führten. Die Habsburgermonarchie erschien allen so lange als nützlich, als jede Nationalität innerhalb des Reiches eine andere Nationalität unterdrücken konnte. Die Deutschen meinten, die Existenz der Donaumonarchie verhindere, dass die Tschechen in Böhmen das Übergewicht erhielten. Die Tschechen wiederum befürchteten, ohne die Herrschaft Wiens würden die Deutschen ihr Land unterdrücken.
Das ehemalige Mitglied des Reichsrates in Wien, Thomas G. Masaryk (1850–1937), der erste Staatspräsident der Tschechoslowakischen Republik, vertrat eine Philosophie, die sich aus Elementen des deutschen Idealismus, französischen Rationalismus und marxistischen Sozialismus speiste. Vor dem Ersten Weltkrieg bekämpfte Masaryk sowohl die panslawistische Bewegung als auch die Dominanz der Deutschen in Böhmen. Während des Ersten Weltkrieges stellte er in Paris eine tschechische Exilregierung zusammen. 1917 formte er in Russland aus böhmischen und slowakischen Kriegsgefangenen die »Tschechische Legion«, die anschließend an der Westfront eingesetzt wurde. Und 1918 rief er mit Unterstützung der Entente in Prag die Tschechoslowakische Republik aus, die er bis 1935 führte.
In diese politischen Rahmenbedingungen wurde am 23. Juni 1919 meine Mutter Ilse Beck in dem kleinen Ort Warnsdorf hineingeboren. Kindheit und frühe Jugend verliefen geradezu idyllisch, dann kam sie in den Strudel der politischen Ereignisse. Der Vater Arthur war Bankdirektor, die Mutter Melitta führte ein großbürgerliches Haus. Mit 14 Jahren besuchte die junge Ilse Beck noch einmal ihren Geburtsort: »Da waren die beiden Häuser, die ich immer wiedersehen wollte, das meiner Urgroßeltern und das meiner Großeltern, in dem auch die Bank untergebracht war, die Wirkungsstätte meines Großvaters, der sie viele Jahre geleitet hatte. Verbunden waren die beiden Häuser durch einen von Gärtnern gepflegten Park mit zwei Teichen, auf denen meine Mutter und deren Bruder bei entsprechenden Wintertemperaturen eislaufen konnten. Dieser Park wurde nach dem Tod meines Großvaters Stadtpark, und so konnten wir auf den Wegen, auf denen meine Vorfahren mit der Kutsche gefahren waren, spazieren gehen. Warnsdorf war ein kleines, aber speziell durch seine Textilindustrie in der ganzen Monarchie bekanntes, sehr wohlhabendes Städtchen. Die Beifügungen, die man den Namen der verschiedenen Fabrikantenfamilien gab, deuteten auf ihre Erzeugnisse hin. So gab es die Samt-Fröhlich, Tuch-Liebisch, Spitzen-Bürger etc. Man lebte dort wie in einer großen Familie, in der jeder seinen Platz, seine Funktion und seine Monopolstellung hatte. Mein Urgroßvater betrieb einen Garn-Großhandel, belieferte die Textilfabriken, mein Großvater war Leiter der Bank, über die alle Geschäfte und Transaktionen durchgeführt wurden, ein Cousin meiner Mutter hat alle versichert und ein Großonkel erzeugte in seiner Lederfabrik die für Webstühle und Maschinen benötigten Riemen.«
Hochzeit meiner Großeltern Arthur und Melitta Beck 1912 in Warnsdorf.
Meine Mutter Ilse Beck mit neun Jahren 1928 in Aussig.
Aufgewachsen ist meine Mutter in Aussig an der Elbe. Inklusive der Vororte zählte Aussig damals rund 70.000 Einwohner. Diese etwas schmutzige Kleinstadt zwischen Erzgebirge im Norden und dem Elbetal im Süden war nicht besonders schön, hatte keine attraktive Altstadt und keine Sehenswürdigkeiten, aber doch Atmosphäre. Die junge Ilse Beck erlebte das Idyll ihrer Kindheit so: »Man konnte die geographische Lage Aussigs aus wirtschaftlichem Aspekt geradezu als ideal bezeichnen. Es lag an der Elbe, die ein ganz wichtiger Verkehrsweg zwischen Böhmen und Hamburg war. Der Elbehafen wurde zu einem regen Umschlagplatz für überseeische Güter, die über Hamburg auf dem Wasserweg hierher kamen. Es war immer ein Erlebnis für mich, wenn ich als Kind an der Hand meiner Nuni, unserem Kinderfräulein, mit dem mich ein sehr herzliches Verhältnis bis zu ihrem Tod verband, an der Elbe spazieren ging und die großen Schiffe und die riesigen Berge von Kokosnüssen sah, die da ausgeladen wurden. Diese Kokosnüsse, deren Milch wir so gern tranken,