Kein Wunder, ist diese Stadt doch viele Generationen lang reicher an Stars gewesen als irgendeine andere. Für Nachwuchs sorgte man in den eigenen Reihen. Denn ein Großteil der Publikumslieblinge ist irgendwie miteinander verwandt-verschwägert-verheiratet (oder voneinander geschieden).
Spricht man von einer Schauspielerdynastie, meint man in erster Linie die Hörbigers. Eine wahrhaft legendäre Dynastie. Bestehend aus Paul (1894 bis 1981), seinem Bruder Attila (1896 bis 1987), dessen Frau Paula Wessely (*1907). Und deren Töchter Elisabeth Orth, Christiane und Maresa Hörbiger stehen heute ebenso in der ersten Reihe des deutschsprachigen Theaters wie einst ihre Eltern.
In Paula Wesselys Burgtheatergarderobe hing einst das Bildnis einer schönen jungen Frau, der »Tant’ Josefin«. Auch Josefine Wessely (1860 bis 1887) – die Schwester ihres Vaters – zählte zu jenen Künstlern, die dem alten Burgtheater zu Weltruhm verhalfen.
Die Hörbiger-Theaterfamilie ist noch größer. Angeheiratete Mitglieder waren der verstorbene Burgschauspieler Hanns Obonya – Elisabeth Orths Ehemann. Der Regisseur Wolfgang Glück – der erste Mann von Christiane Hörbiger. Und der Burgschauspieler Dieter Witting – in erster Ehe verheiratet mit Maresa Hörbiger. Auch der Nachwuchs strebt zur Bühne: Pauls Enkelsohn Christian Tramitz ist Schauspieler in Deutschland, Christiane Hörbigers Sohn Sascha Bigler ist Regisseur, Elisabeth Orths Sohn Cornelius Obonya ist als Schauspieler in Deutschland und Österreich bereits etabliert. Und Maresa Hörbigers Sohn Manuel Witting will ebenfalls zur Bühne.
Es geht noch weiter: Durch Heirat/Scheidung sind die Hörbigers auch mit anderen Wiener Bühnendynastien »verbandelt«: Paul Hörbigers Ehefrau Pippa war selbst Schauspielerin und ist die Tochter des Raimundtheater-Direktors Ernst Gettke. Pauls Tochter Christl – auch sie spielte einst am Burgtheater – ist mit dem Antiquitätenhändler Bibi Ptack verheiratet. Dessen erste Frau wiederum war Susi Nicoletti. Womit wir bei einem weiteren Clan angelangt wären.
In zweiter Ehe war die Nicoletti, eine andere Große des Burgtheaters, mit Ernst Haeusserman (1916 bis 1984) verheiratet. Dieser wiederum zählte als Sohn des Burgschauspielers Reinhold Häussermann (1884 bis 1947) und als Direktor sowohl der Burg als auch der Josefstadt viele Jahre zu den Drahtziehern des Wiener Theaterlebens. Vor seiner Ehe mit Susi Nicoletti war Ernst Haeusserman mit Hansi Lothar, der Tochter des ehemaligen Josefstadt-Direktors Ernst Lothar (1890 bis 1974), verheiratet, der später wiederum Ehemann der Schauspielerin Adrienne Gessner (1896 bis 1987) wurde. Zusammengefaßt gehörten Hörbiger/Wessely/Nicoletti/Haeusserman/Gessner, wenn auch zum Teil auf sehr verschlungenen Wegen, demselben Clan an. Der freilich teilweise untereinander dermaßen zerstritten war, daß man nur auf der Bühne miteinander verkehrte.
Ernst Haeusserman begann seine Karriere als Sekretär Max Reinhardts. Doch der gehört schon wieder zur nächsten Dynastie: Die Bedeutung der Familie Thimig ist für Wiens Bühnenleben ähnlich groß wie die der Hörbigers. Hugo Thimig (1854 bis 1944), der Gründer des Theaterclans, war fünf Jahre Direktor des Burgtheaters. Wie er haben auch seine Kinder Helene (1889 bis 1974), Hermann (1890 bis 1982) und Hans (1900 bis 1991) Theatergeschichte gemacht.
Hermann Thimigs Frau war Vilma Degischer (1911 bis 1992), die jahrzehntelang die Grande Dame des Theaters in der Josefstadt war. Auch deren Tochter Johanna ist Schauspielerin.
Helene Thimig war mit Max Reinhardt, dem wohl bedeutendsten Theatermann des Jahrhunderts, verheiratet. Er war von 1924 bis 1935 Direktor des Theaters in der Josefstadt.
Apropos Josefstadt: Zum Ensemble dieses Theaters gehörte eine Zeitlang Wolf Albach-Retty (1906 bis 1967), der vor allem an der Burg und im Film Karriere machte. Der Sohn der legendären Hofschauspielerin Rosa Albach-Retty (1874 bis 1980) war in erster Ehe mit Magda Schneider (*1909) und in zweiter mit der Schauspielerin Trude Marlen verheiratet. Ehefrau Nummer eins schenkte ihm Tochter Romy Schneider (1938 bis 1982), Österreichs berühmteste Filmschauspielerin.
»Verbandelt« war man in Theaterkreisen immer schon. Von dem berühmten Burgschauspieler Carl La Roche (1794 bis 1884) hieß es, er wäre ein natürlicher Sohn Goethes. Ferdinand Raimund (1790 bis 1836) war mit der Schauspielerin Luise Gleich verheiratet. Und Johann Nestroy (1801 bis 1862) schloß Bühnenverträge nur unter der Bedingung ab, daß auch seine langjährige Lebensgefährtin, die Schauspielerin Marie Weiler, engagiert würde.
Wie auch immer, Wiens Theater waren ohne ihre Schauspielerfamilien zu keiner Zeit denkbar. Mit Protektion und Freunderlwirtschaft – jetzt einmal ausgenommen der »Fall Nestroy« – hat das alles recht wenig zu tun. Paula Wessely wäre nicht »die Wessely« geworden, nur weil sie eine berühmte Tante hatte oder der Familie Hörbiger angehörte. Ebenso wie Attila Hörbiger nicht Max Reinhardts liebster Jedermann hätte werden können, nur weil er einen Bruder hatte, der damals bereits Filmstar war. Dazu kommt noch: »Gescheiterte« berühmte Kinder gibt’s am Theater mindestens so viele wie erfolgreiche.
»Der Papa wird’s scho richten« mag für die Söhne von Politikern, Beamten oder Industriekapitänen gelten. Als Schauspieler hat man vom berühmten Vater – wenn man Glück hat – das Talent geerbt. Das aber ist die ehrlichste Form von Protektion.
PS: »Verbandelt« sind oder waren in Wien außerdem: Elfriede Ott war die Ehefrau Ernst Waldbrunns und die langjährige Gefährtin Hans Weigels. Peter Vogel, Sohn des Komikers Rudolf Vogel, war der Ehemann von Gertraud Jesserer. Erika Pluhar war mit André Heller verheiratet. Curd Jürgens war Ehemann der Schauspielerinnen Lulu Basler, Eva Bartok und Judith Holzmeister – letztere heiratete später den Burgschauspieler Bruno Dallansky. Hilde Krahl ist die Witwe des Regisseurs Wolfgang Liebeneiner. Helmut Qualtinger war Ehemann der Schauspielerin Vera Borek. Oskar Werner war mit der Burgschauspielerin Elisabeth Kallina verheiratet. Helmut Lohners zweite Frau war Karin Baal. Heinz Marecek war mit Julia Migenes verheiratet und ist jetzt Ehemann der Schauspielerin Christine Golin. Karl Parylas Frau ist Hortense Raky, deren Söhne Stefan und Nikolaus ebenfalls Schauspieler sind. Josefstadt-Legende Leopold Rudolf war der Ehemann Marion Deglers. Otto Schenks Frau ist die Schauspielerin Renée Michaelis. Erni Mangold ist die geschiedene Frau Heinz Reinckes. Klausjürgen Wussows geschiedene Frau ist Ida Krottendorf, deren Kinder Sascha und Barbara ebenfalls Schauspieler sind. Der Regisseur Reinhold Schwabenitzky ist der Sohn von Ex-Burgtheaterdirektor Gerhard Klingenberg und der Ehemann der Schauspielerin Elfi Eschke. Paul Löwingers Schwester Gretl war mit Erich Padalewski verheiratet, Löwingers Tochter Sissy ist die geschiedene Frau von Peter Rapp. Der war aber auch mit der Regisseurin Sylvia Dönch, Tochter des Volksoperndirektors Carl Dönch, verheiratet. Waltraut Haas ist die Frau Erwin Strahls. Susanne Almassy ist mit Rolf Kutschera, dem langjährigen Direktor des Theaters an der Wien, verheiratet. Brüder sind die Schauspieler Alfred Böhm, Carlo Böhm und der verstorbene Burgtheaterstar Franz Böheim. Karlheinz Böhm ist Vater der Schauspielerin Kathi Böhm und Sohn des Dirigenten Karl Böhm . . .
Tante Hilda greift ein
Ein Gespräch mit der 102jährigen Hofschauspielerin Rosa Albach-Retty. Und wie es dazu kam.
Das Interview sollte an ihrem hundertsten Geburtstag, also am 26. Dezember 1974, erscheinen. Ich hatte mich mehr als rechtzeitig angemeldet, sie in ihrem Altersdomizil, dem Künstlerheim in Baden bei Wien, angerufen, um einen Termin gebeten. Doch Frau Hofschauspielerin – sie war die letzte, die diesen Titel noch tragen durfte –, Frau Hofschauspielerin entschuldigte sich höflich, sie lebte doch schon seit fast zwanzig Jahren zurückgezogen und wollte nicht mehr in die Öffentlichkeit.
Das hat man als Journalist zu respektieren. Wenn auch äußerst ungern. Stellte die alte Dame doch ein wahrhaft großes Stück Kulturgeschichte unseres Jahrhunderts dar. Geboren 1874 in der deutschen Stadt Hanau, in einer Zeit, zu deren letzten Zeugen sie zählte. Georges Bizet hatte in ihrem Geburtsjahr Carmen komponiert und Johann Strauß Die Fledermaus. Briefsendungen wurden noch mit der Postkutsche befördert, es gab weder Strom noch Telefon, Bismarck war deutscher Reichskanzler und Victoria Englands Königin, auch Dostojewski, Richard Wagner, Franz Liszt, Robert Koch und Charles Darwin waren ihre Zeitgenossen. 1891 debütierte sie am Deutschen Theater Berlin, es folgten das Wiener Volkstheater und 1903 die Burg. Als man sie dort nach zehnjähriger Zugehörigkeit zur Hofschauspielerin ernannte, wurde sie, wie in solchen