In der ersten Januarwoche 2001 ging ich an drei aufeinander folgenden Tagen in die sogenannten psychologischen Diagnosegespräche mit der Anstaltspsychologin Kachel. Ich hatte mir vorgenommen, offen und unvoreingenommen in die Gespräche zu gehen, obwohl mir die Warnungen verschiedenster Anstaltsoffizieller doch zu denken gaben („Eine Persönlichkeit wie Sie und Fräulein Strohkopf, vergessen Sie`s“, „Die müsste man aus dem Verkehr ziehen, da hat man den Bock zum Gärtner gemacht“, „Die sitzt in der Kantine immer allein und verkrampft in der Ecke, qualmt eine nach der anderen und kann keinem in die Augen sehen“, „Die ist doch völlig krank, die klebt die abgefallenen, trockenen Blätter von ihren verwelkten Blumen mit Tesafilm wieder an die Stängel“. O-Ton Sozialarbeiter: „Mir hat sie mal erzählt, ,Mit 18 hat mein Liebesleben aufgehört zu existieren. Ich verabscheue Männer, denn Männer sind eklig …’“.
Die Psychologin Kachel antwortete bei unserer Begegnung weder auf meinen Gruß, noch konnte sie mir in die Augen schauen. Fräulein Kachel schien undefinierbar zwischen 40 und 60 Jahre alt zu sein. Alles an ihr war grau und abgestorben, ein Eindruck, der durch den modrigen Geruch abgestandenen Zigarettenrauchs, den sie ausströmte, noch verstärkt wurde. Sie wirkte bewusst geschlechtslos.
Während der Gespräche, die mir völlig surreal erschienen, hatte ich das Gefühl, einer grauen, kalt lauernden Spinne gegenüberzusitzen, die in ihrem eigenen modrigen Netz gefangen war. Von Beginn der Gespräche an fühlte ich Fräulein Kachels abwehrende Spannung, die in manchen Gesprächssituationen in unverhohlene Abscheu umschlug. Gleich anfangs überlegte ich, das Gespräch abzubrechen, da ich seine Ausweglosigkeit ebenso wie sein Ende ahnte, doch wusste ich, dass ich zu den Gesprächen mit dieser „Psychologin“ gezwungen war, da ich mir den Diagnosepsychologen nicht aussuchen konnte, der den Gefangenen nach dem Namensanfangsbuchstaben zugeordnet wird.
Das Grundproblem in diesem ohnehin abgeschlossenen Mikrokosmos Gefängnis ist, dass der Gefangene der Willkür eines einzigen Psychologen ausgeliefert ist und kein kontrollierendes, absicherndes Alternativgutachten von einem zweiten Gutachter möglich ist.
„Was unterscheidet den normalen Bürger, der keine Banken überfällt, von Ihnen?“, stellte die „Gutachterin“ ihre erste Frage.
„Der fehlende Mut“, lächelte ich sie ironisch an. An ihrem sich noch mehr verdüsternden Gesicht musste ich erkennen, dass sie offensichtlich keinen Funken Humor hatte, unabhängig von dem Wahrheitsgehalt meiner Aussage.
Ich führte die Gespräche dennoch fort, blieb die gesamte Zeit über gedanklich ruhig und besonnen, öffnete mich soweit es mir möglich war, ließ mich weder provozieren, noch ging ich auf ihre eingestreuten Zynismen und Gehässigkeiten ein, sondern versuchte, erhobenen Hauptes, so differenziert und offen als möglich, meine Situation zu schildern.
Immer wieder unterbrach mich Fräulein Kachel, um mir vorzuwerfen, dass ich mich ihr „überlegen fühlen“ würde, worauf ich sie freundlich darauf verwies, dass das offensichtlich ein Problem ihrerseits wäre und nicht meines.
Die von der Psychologin Kachel abgestrahlte abwehrende Spannung, die den Raum durchzog wie ein zähes Geflecht, verdichtete sich. Als ich auf ihre Frage nach meiner Idee von Liebe, in schwärmerischem Überschwang und glühenden Farben, eine wild romantische Landschaft leidenschaftlicher, hingebungsvoller, befreiender Emotionalität, Erotik und Sexualität in wechselseitiger Achtung in den verspannten Raum malte, zog sich das in verkrampfter Abwehr eingerichtete Gesicht des Fräulein Kachel zu offenem Abscheu zusammen, dass mir diese von Lebens- und Männerängsten gepeinigte lebensunfrohe Frau fast leidtat.
Immer klarer die Ausweglosigkeit, das kommende Ende und die Auswirkungen dieser „Diagnosegespräche“ sehend, begann ich langsam die Situation zu kippen und problematisierte zunächst die absolutistische, von keiner Kontrollinstanz einsehbare Machtposition der Psychologin, die es ihr ermögliche, eine entscheidende Stellungnahme so zu formulieren, wie immer es ihr gefiele.
Die Explorationssituation völlig drehend thematisierte ich nun ihre tief verstörte Persönlichkeit und ihre von Lebensund Menschenfurcht getriebenen, mehr oder minder latenten Macht- und Zerstörungswünsche. Fräulein Kachel schien die Zitrone im Hals stecken zu bleiben, während sie verzweifelt nach Luft schnappte.
Ich teilte ihr mit, dass ich davon ausginge, dass sie eine negative Stellungnahme schreiben würde, die Anstaltsleitung die Zusammenhänge jedoch erkennen würde und so souverän wäre, dennoch eine positive Beurteilung für meine Lockerung in den offenen Vollzug und die 2/3-Entlassung zu fixieren. Damit diktierte ich der Psychologin Kachel faktisch ihre negative Stellungnahme in die Feder, die sie letztlich, nur um vieles grotesker und haarsträubender, auch so formulierte. Am Ende brach sie das Gespräch mitten in meinem letzten Satz ab.
Nachdem das psychologische „Gutachten“ der Psychologin Kachel geschrieben war, wurde eine Konferenz mit der entscheidenden stellvertretenden Anstaltsleiterin Preter einberufen, von der ich ausgeschlossen war, und auf der das Fräulein Kachel ihre „Exploration“ vortrug. Die stellvertretende Anstaltsleiterin nahm die Beurteilung wider naiven Erwartens an und verweigerte mir aufgrund der psychologischen Stellungnahme den Urlaub und die Verlegung in den offenen Vollzug.
Ich ließ vom Anwalt die mir verweigerten Kopien des Konferenzbeschlusses und des psychologischen Gutachtens einfordern, und führte ein anderthalbstündiges Gespräch mit dem Anstaltsleiter, in dem er mir gegenüber versicherte, er würde mich, im Gegensatz zur Psychologin Kachel, als „ganz und gar nicht arrogant“ empfinden, und er sähe bei mir „ebenso wenig die“ – im psychologischen Gutachten behauptete – „Fluchtgefahr, wie die Notwendigkeit für therapeutische Gespräche“, die das Fräulein Kachel in ihrer Beurteilung für ein Jahr gefordert hatte, bevor man mich erneut bewerten sollte. Er stellte fest, dass es augenscheinlich wäre, dass „die Psychologin und Sie sich ja offensichtlich überhaupt nicht verstanden und grün gewesen“ wären. Dennoch hatte er nicht die Courage, die Konsequenz zu ziehen und den von der Schmähschrift der Dame Kachel bestimmten negativen Konferenzbeschluss außer Kraft zu setzen.
Nach einer heftigen Auseinandersetzung mit der stellvertretenden Anstaltsleiterin Preter erhielt ich von ihr eine ausschließlich auf dem psychologischen Gutachten der Psychologin Kachel basierende negative Bewertung zur vorzeitigen Freilassung, auf die sich infolge die über die 2/3-Entlassung entscheidende Strafvollstreckungskammer Wuppertal alleinig berief und meine 2/3-Entlassung ablehnte. Die Kammer stützte sich dabei ausschließlich auf das auch für jeden Laien erkennbare Verunglimpfungsgutachten und ließ die Bewertungen der Arbeits- und Vollzugsbeamten aus dem vielmonatlichen Vollzugsalltag völlig außer Acht, die mich einhellig als „zurückhaltend, freundlich, höflich, hilfsbereit und korrekt“ beurteilt hatten.
Während der wenige Minuten währenden 2/3-Anhörung hätte ich auch gegen eine Mauer reden oder mich mit meiner Klobürste unterhalten können, da das Ergebnis von vorneherein feststand, wie auch die Anstaltsleitung wusste.
Der Anstaltsleiter verweigerte mir infolge ein Gespräch über eine weitere, sogenannte Vollzugsplanung mit dem Hinweis, „Ich kann für Sie keine Perspektive entwickeln, für die es sich lohnen würde ,bei der Stange zu bleiben’, statt sich über Vollzugslockerungen der Strafverbüßung zu entziehen, die Sie seit Erreichen des 2/3-Zeitpunktes für völlig ungerechtfertigt halten.“ (Schriftliche Eröffnung Anstaltsleiter)
Die Anstaltsleitung formulierte hiermit in zynischer Machtarroganz, dass man mir jede Lockerung, Perspektive, Aussicht auf Freiheit und sogar Ansprechpartner verwehren und mich auf Jahre über den 2/3-Entlassungszeitpunkt hinaus einmauern würde, da ich die von Seiten der Anstalt gegen jede Wahrheit, Gerechtigkeit und Folgerichtigkeit zerstörte 2/3-Entlassung nicht als gerechtfertigt ansehen würde. Somit folgte eine Ungerechtigkeit aus der vorausgegangenen und deckte und rechtfertigte sie; ein Kausalitätszug, der sich verselbstständigte und mich in seiner Eigendynamik, die kein Verantwortlicher zu durchbrechen die Courage hatte, auf ein Abstellgleis schob, auf dem ich auf Jahre, ohne Freiheitsaussicht, festgeklemmt war.
Natürlich hätte ich wissen müssen,