Die MF25 war einst vom legendären militärischen Kopf des portugiesischen Umsturzes der Hauptleute vom 25. April, dem charismatischen Redner und Führer der Nelkenrevolution, Otelo de Carvalho, gegründet worden. Zu einer Zeit, als die Restauration begonnen hatte, die Errungenschaften der Revolution wieder zurückzuschrauben. Otelo wurde infolge zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt und die damalige politische Führung hatte in neuerer Zeit zugegeben, dass nicht er als Person, sondern als Symbol für antirestaurative Unruhe und Aufruhr verurteilt worden war. Ob und inwieweit er an terroristischen Anschlägen als planerischer Kopf beteiligt gewesen war, ist nie bewiesen worden. Er lebte nach der Haft mit seiner Familie zurückgezogen vor Lissabon in einem kleinen Anwesen, gab seltene Interviews und schrieb Bücher.
In der Zelle entbrannte die Diskussion, ob man an einem möglichen Hungerstreik teilnehmen sollte. Alle waren sich einig und die 90 % meiner trunkenen Leidensgenossen, deren Fälle nicht mit Gewalt in Berührung standen, sahen sich schon in nächster Zukunft die Schwelle zur Freiheit überschreiten. Meine Mitgefangenen erklärten unisono, ich bräuchte nicht beim Streik mitzumachen, da ich mit meinem Fall in Deutschland ja nichts mit der Amnestie zu tun hätte. Ich bedeutete ihnen, dass ich mich um ihre Betreuung − Versorgung mit Teegetränken, kleine Sportübungen – kümmern würde.
Die Tage vergingen mit täglichen Nachrichten über eine mögliche Amnestie und hitzigen Spekulationen über einen kommenden Hungerstreik. Die Diskussionen entwickelten sich über das gesamte Gefängnis und wurden während des Hofgangs auch mit den Insassen der anderen Zellen geführt, die noch überwiegend unschlüssig waren. Die Entscheidung in unserer Zelle war gefallen. Sollte ein Hungerstreik, ausgehend von den großen Lissabonner Gefängnissen, beginnen, würde unsere Zelle daran teilnehmen.
Neben mir wollte auch ein junger Junkie nicht am Streik teilnehmen; weniger aus Furcht vor Gewichtsverlust, sondern weil er sich fürchtete, seine Mutter nicht bei den Besuchen sehen zu können, die die Anstalt mit Sicherheit für die Teilnehmer des Aufstands streichen würde.
Dienstagvormittag erschien die Gefängnisdirektorin in der Zelle, um mit uns über einen möglichen Streik und seine Auswirkungen zu sprechen; besser, um einen Vortrag darüber zu halten. In verschlossenem langen Mantel und damenhafter Zurückhaltung stand sie vor uns, die Gefangenen in Hufeisenform um sich geschart, und versuchte uns in gönnerhafter Abgeklärtheit und Weitsicht einen möglichen Hungerstreik auszureden. Sie erklärte sich in einer geschickt ausgewogenen Mischung aus inständigen Bitten, gutmütterlichen Ratschlägen, unverhohlenen Drohungen und in Aussicht gestellten Sanktionen. Mutter Senhora Directora Teresa forderte uns eindringlich auf, zu unserem eigenen Wohl von einem Hungerstreik abzusehen. Sie machte sich große Sorgen, dass wir voreilige Entscheidungen treffen könnten, die wir später bereuen müssten. Sie führte weiter aus, dass ein Hungerstreik natürlich automatisch dazu führen müsste, dass die Besuche gestrichen würden, ebenso wie Telefonate und die Annahme von Paketen. Außerdem könnte sie Nachteile in den kommenden Prozessverfahren nicht ausschließen, da eine Teilnahme an dem Hungerstreik natürlich Eingang in die Akten finden würde.
Ihre Stimme wurde wieder mütterlich besorgt und sie wiederholte ihre wohlwollende Bitte, im eigenen Interesse von einem Hungerstreik abzusehen. Um Wankelmut zu fördern, führte sie abschließend an, dass alle anderen Zellen nicht an einem ohnehin unwahrscheinlichen Hungerstreik teilnehmen würden. Natürlich war sie darüber informiert, dass in unserer Zelle die Entscheidung für den Streik gefallen war.
Als Senhora Directora gegangen war, erlebte ich eine Veränderung unter den Gefangenen. War Ihre Exzellenz bisher für fast alle Gefangenen eine unantastbare und fast heilige Autorität gewesen, änderte sich das nun. Der heuchlerische Auftritt war von den meisten Gefangenen auch als solcher erkannt worden. Der Auftritt der Direktorin hatte die Gefangenen in ihrer Entscheidung für den Streik noch bestärkt. In der Zelle breitete sich ein euphorisches Gefühl der Solidarität aus. Man fühlte sich als ein verschworener Haufen, als einsame Helden, Schulter an Schulter, in einem aufrechten Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, umgeben von einem Meer aus Feindseligkeit und Feiglingen.
In stolzgeschwellter Ausgelassenheit schnatterten die Gefangenen wild durcheinander. Sie waren auf einmal wer und wie zum Nabel der Welt geworden, die sich wieder zu drehen schien. Überall in der Zelle wurde gelacht und gescherzt. Es gab keine Unterschiede mehr, jeder sprach mit jedem und alle versicherten einander Treue, Durchhalten und Kampf bis zum Letzten, während Primitivo von einem zum anderen lief, allen lachend auf die Schulter schlug und jedem erklärte, dass man denen endlich mal zeigen würde was eine Harke ist.
Wir folgten gespannt den Fernsehneuigkeiten. Der Streik in den großen Lissabonner Gefängnissen begann und breitete sich schnell über das ganze Land aus. In den Nachrichten wurden Außenaufnahmen vom großen Stadtgefängnis in Caxias gezeigt, auf denen weiße Laken mit Streikparolen vor den Fensteröffnungen flatterten. Dahinter versuchten wild gestikulierende Gefangene mit Zurufen ihre Angehörigen zu erreichen, die nach Streichung aller Besuche aufgebracht vor den Gefängnismauern ausharrten. Unsere Zelle hatte sich am Tag des Streikbeginns geschworen, noch einmal tüchtig zu essen und alle Vorräte aufzubrauchen und sich am folgenden Tag dem Streik anzuschließen.
Am kommenden Morgen blieb die Frühstückskiste mit den Brötchen gefüllt, nur das heroinsüchtige Muttersöhnchen und ich bedienten uns. Wir saßen taktvoll verschämt mit dem Rücken zur Zelle gewandt, während sich die Mitgefangenen mit der Kaffeebrühe begnügten. Zum Mittag gab es eine seltene Schnitzelplatte, deren 26 Portionen auf Anweisung der Guardas von den Kalfaktoren zu einem prachtvollen heißen Buffet über die Tische drapiert wurden, garniert von Heerscharen sonnengoldener Orangen.
Die Streikfront bekam einen ersten Riss. Frederico konnte nicht widerstehen und erklärte den Streik für sich für beendet. Unter dem Feixen der vor der Zelle lauernden Guardas und mit den wütend verächtlichen Anwürfen seiner Kameraden im Rücken setzte er sich vor die Spüle und fiel wild schmatzend über drei Teller her.
Ich kochte für die Mitgefangenen Tee und versorgte sie auf ihren Betten. Zudem hatte ich ein leichtes Gymnastikprogramm entwickelt, das Hunnen-Enrique und Bronx-Jao dreimal täglich durchsetzen wollten. Die Mittagsplatte beließ man erwartungsgemäß bis zum Abendessen in der Zelle. Sie bestand aus den beliebten Sardinhas Grelhadas, den gegrillten Sardinen, die man ebenso demonstrativ verführerisch über die Tische duften ließ. Die Streikfront bröckelte weiter. Nando erklärte den Streik jetzt auch für beendet. Er machte sich mit Frederico, den er am Mittag noch empört angegriffen hatte, mit Felipe, Beto und noch drei anderen Junkies über die gegrillten Sardinen her, wobei sie das Überangebot freudig annahmen und jeder von ihnen mehrere Portionen verschlang.
Die Streikfront brach langsam völlig zusammen. Am nächsten Morgen kippten Gil, Roberto, Primitivo und noch fünf andere. Am Nachmittag befanden sich von 26 Gefangenen, mit Ronnie, Bronx-Jao und Buba-Fernando noch drei Gefangene im Hungerstreik. Am frühen Abend gaben auch diese in gegenseitigem Einvernehmen den Streik auf und ein fröhlich befreites Gelage konnte beginnen. Der Gefängniskiosk war nun auch für unsere Zelle wieder geöffnet, die ihn fast gänzlich aufkaufte. Zum Abendessen, dem portugiesischen Gulasch Guisado, wurde alles auf den Tisch gepackt und bis tief in die Nacht hinein geschlemmt. Streik?! Den sollten die anderen in den großen Gefängnissen zu Ende führen. Sie standen hier als Einzelkämpfer ohnehin auf verlorenem, sinnlosem Posten. Wozu Energien für nichts verschwenden?!
Der Hungerstreik in den großen Gefängnissen Portugals ging weiter. Fast jeden Tag wurden Bilder vom Caxias Gefängnis gezeigt. Der Streik radikalisierte sich. Wir sahen im Fernsehen die Zellenwaben in den Gefängnisfronten brennen, da Gefangene begonnen hatten ihre Zellen zu demolieren und in Brand zu stecken. Ihre Mütter und Frauen schrien dazu und klagten in die Kameras, dass sie über hinausgeschmuggelte Kassiber Informationen hätten, dass Gefangene gezielt vom Wachpersonal zusammengeschlagen würden und die Krankenstation bereits überfüllt sei.
Wenige Tage später wurde der Streik gänzlich niedergeschlagen. Unter