Im Gießener Prozess hatte nun der Humanbiologe Dr. Schaff seinen Auftritt. Dieser forsche, braungebrannte, vor pfauenhafter Selbstgefälligkeit strotzende junge Gutachter schien geradezu überzuquellen vor positiver Energie und innovativem Aktionismus. Nachdem er, Beifall heischend und mit einem selbstverliebten Blitzen in den stahlgrauen Augen, längere und nicht nachvollziehbare Ausführungen in den Gerichtssaal geschleudert hatte, trompetete er triumphierend, dass ich mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ der Täter sei. „So habe sich bei einem Vergleich mit Aufnahmen des Angeklagten, die von dem Sachverständigen selbst mit entsprechendem Blickwinkel und gleichen Lichtverhältnissen gefertigt worden sind, eine große Ähnlichkeit bei insgesamt 12 feststellbaren Merkmalen ergeben.“
Der gemütliche, weißhaarige alte Fuchs von Richter, der sich die Ausführungen des Humanbiologen Schaff in aller Ruhe angehört hatte, während er in seinen Akten blätterte, sprach Schaff darauf an, dass „der Sachverständige Dr. Schaff bereits im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen den Angeklagten im Juli 1994 von der Polizei kontaktiert worden und unter Vorlage einer Bildauswahl u. a. auch zu den Möglichkeiten der Erstellung eines anthropologischen Vergleichsgutachtens bezüglich des Überfalls auf die Volksbank vom 10. 6. ’94 befragt worden (war). In seinem Antwortschreiben vom 10. 9. ’94 erklärte er damals, kein Gutachten erstellen zu können, da auf dem ihm übersandten Lichtbildmaterial keine verwertbaren Merkmale zu erkennen seien.“ (Urteilsbegründung)
Der eingangs so dynamische und vor Selbstverliebtheit funkelnde junge Sachverständige schrumpfte sichtlich unter den Ausführungen des Richters. Der Richter fragte Schaff, warum er zu dem Zeitpunkt, als noch kein Bildmaterial von mir vorlag, auf dem Videokamerabildmaterial keine verwertbaren Merkmale erkennen konnte, er jedoch in dem Moment auf demselben Videokamerabildmaterial verwertbare Merkmale erkennen konnte, als nachträglich im Gefängnis aufgenommenes Bildmaterial von mir als dem angeklagten, vermeintlichen Täter vorlag.
Der Sachverständige Schaff blätterte hektisch in seinen Unterlagen, suchte nach Worten und konnte sich die für ihn doch etwas peinliche Situation nicht erklären. Er ward entlassen.
Auch im Kölner Prozess, in dem Schaff gehört wurde, wurde der Humanbiologie und Schwiegermuttertraum erwischt und von Gericht und Verteidigung abgekanzelt wie ein ertappter Schuljunge. Meine Anwälte hatten zusätzlich einen „Focus“-Artikel als Beweisantrag eingebracht, in dem ausführlich dargestellt wurde, wie Herr Dr. C. Schaff in einem Gerichtsverfahren den Halter eines Fahrzeugs anhand eines Blitzbildes einer Straßenüberwachungskamera der erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung „überführt“ hatte. Schaff hatte den Halter des Fahrzeugs mit „100%iger Sicherheit“ anhand der „100%igen“ Übereinstimmung“ aller „17“ auf dem Überwachungsfoto erkennbaren anthropologischen Merkmale als den Fahrer des Wagens, und damit als unentrinnbaren Täter identifiziert, bevor dessen 16 Jahre jüngerer Stiefsohn, der als nichtleiblicher Sohn natürlich auch keine genetische Ähnlichkeit aufweisen konnte, sich als Fahrer und Motiv des Überwachungsbildes offenbart hatte.
Es hatte für Schaff „in einer völlig zweifelsfreien Zone“ gelegen, dass der 38-jährige Angeklagte und nicht sein 22-jähriger Stiefsohn der Fahrer des Fahrzeugs gewesen war.
„Dabei hätte gesunder Menschenverstand genügt, um zu erkennen, dass da ein junger Bursche abgebildet ist“, hatte sich der angeklagte Fahrzeughalter gewundert. „Man muss wohl Spezialist sein, um Äpfel und Birnen nicht unterscheiden zu können.“
„Ausdrücklich verteidigte (die in dem Verfahren zuständige) Richterin den vielgefragten – wenngleich umstrittenen – Gutachter Schaff, ‚dessen Vorgehensweise durch das Oberlandesgericht Frankfurt regelmäßig nicht beanstandet wird.‘“ (Zitat „Focus“)
Im Jahre 2002 sollte ich im Remscheider Knast in der WDR-Reihe „Menschen hautnah“ die Geschichte eines Mannes sehen, der 1991 in Nürnberg − aufgrund einer 100%igen wissenschaftlichen Identifikation durch den Sachverständigen Dr. C. Schaff − wegen Bankraubs mit Geiselnahme zu 8 Jahren Haft verurteilt worden war. Nachdem der Mann 8 Jahre unschuldig in der Zelle gesessen hatte (Er wurde nicht vorzeitig entlassen, da er nicht gestand, was er nicht getan hatte), stellte sich erst nach seiner Freilassung heraus, dass er nicht der Täter gewesen war.
Eine ähnliche Situation wie mit dem Gutachter Schaff erlebte ich in meinem Verfahren mit dem Gutachter Schalmer: Das Kölner Gericht, das sich in Beweisnot sah, beschloss ein weiteres Größengutachten einzuholen, und zwar durch den Sachverständigen Professor Dr. Schalmer, der Professor für experimentelle Rechtsmedizin an der Uni Bonn war. Schalmer betrieb außerdem ein privates anthropologisches Institut, in dessen Rahmen er regelmäßig Gerichtsgutachten erstellte. Prof. Dr. Schalmer hatte ein kompliziertes Computersimulationsverfahren entwickelt, für das er einerseits die überfallenen Banken aufsuchte und dort seine aufwendige Simulation durchführte. Andererseits mussten erneut Aufnahmen von mir mit Foto- und Videokamera aufgenommen werden. Was im zentralen Kölner Polizeipräsidium unter strenger Bewachung durchgeführt wurde.
Zum Ende des Jahres 1997 hatte der Sachverständige Schalmer sein von der Kammer sehnlichst erwartetes Größengutachten abgeschlossen. Er schickte es dem Gericht, meinen Anwälten und mir zu. Gleich zu Beginn des neuen Jahres 1998 trug Prof. Dr. Schalmer das umfangreiche Gutachten vor und versuchte es zu erläutern. Er tat es stockend, hölzern, sich im Reich der Worte sichtlich unwohl fühlend, die mit seinem verkomplizierenden Übereifer nicht Schritt halten konnten. Richter Schalter und seine beiden beisitzenden Richter versuchten den Ausführungen zu folgen, während die vier Amateurrichter schon nach den ersten Sätzen das Handtuch warfen und sich desorientiert im Gerichtssaal umschauten. Mein Staatsanwalt drehte sich immer mal wieder mit der Belustigung zu dem Gutachter an seiner Seite um, mit der ein Fachidiot einen anderen Fachidioten so wenig verstehen kann, wie er ihn verstehen will.
Meinen vom Fokus seines Siegeswillens offensichtlich geblendeten Vorsitzenden Richter Schalter schienen die Ausführungen des Prof. Dr. Schalmer, der mich anhand seiner komplizierten Computersimulation überführt sah, zu überzeugen. Er nickte befriedigt, während meine Verteidiger und ich amüsiert das Schalmersche Gestotter verfolgten. Wir hatten in der Analyse des ausführlichen schriftlichen Textes erkannt, dass das gesamte Gutachten auf Sand, sprich auf Unbekannten aufgebaut war und die auf Annahmen fußenden „empirischen“ Daten letztlich Scharlatanerie und problemlos zu zerpflücken waren.
Es folgte eine Meisterleistung des Kreuzverhörs durch meinen Anwalt Fuchs, der den Sachverständigen Schalmer behutsam ironisch durch sein Gutachtengebäude bis auf die Basisebene zu den Grundpfeilern führte, um vor unser aller Augen die gesamte Expertise über Schalmer langsam zusammenstürzen zu lassen. Schalmer stammelte auf die Fragen nach den Ausgangsdaten schlussendlich nur noch „Ich ging davon aus“, „Ich habe angenommen“, „Das war meine Annahme“, sodass selbst der gelangweilte Staatsanwalt nur noch belustigt den Kopf schüttelte.
Der Richter unterstützte nun erwartungsgemäß die von den Anwälten aufgeworfenen Fragen, und als der nun gänzlich in sich zusammengesunkene Gutachter Professor Doktor Schalmer, der schon so viele Angeklagte mit seinem berauschenden Verfahren überführt hatte, aus dem Gerichtssaal schlich, war das Gutachten ein verbranntes Beweismittel.
Auch dieser Fall zeigt, wie gefährlich in all seinen Konsequenzen ein unkontrolliertes Gutachten sein kann. In den Gerichtsverfahren, in denen das Schalmersche Gutachten zu einer Verurteilung geführt hatte, waren die verteidigenden Anwälte (und auch die Angeklagten) offensichtlich nicht in der Lage, die analytische Sorgfalt und Akribie aufzuwenden, um die Scharlatanerie des Schalmerschen Verfahrens entlarven zu können. Ich hatte bei meinem einmaligen Rendezvous mit der deutschen Justiz das Pech (wie das Glück), gleich mehreren gefährlich unfähigen Gutachtern ausgeliefert zu sein. Doch auch verantwortungsvolle, sorgfältig bemühte Gutachter, die hoffentlich in der Überzahl sind, sind nur Menschen, die Fehler machen können. Der gutachterlichen Entscheidungsmacht sollte grundsätzlich ein kontrollierendes Korrektiv zur Seite gestellt werden.
Das würde natürlich auch nur zu einer Chancenverbesserung führen, womit aber schon viel erreicht wäre. Bei der ganzen Begutachtung geht es immer nur um einen Wahrscheinlichkeitswert, wobei