13 Wochen. Harry Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harry Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783955683092
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Wahrscheinlich kommt gleich noch Oma rein, die schon seit Jahren tot ist. Und wahrscheinlich nimmt die mich gleich mit in den Himmel und dann bin ich eh tot und dann ist es egal, in welchem Bett ich schlafe oder nicht schlafe. »Alles gut«, schloss Simon müde seine wirren Gedanken ab und hatte die Augen längst wieder geschlossen. »Morgen bin ich weg. Versprochen.«

      Ohne ein weiteres Wort verschwand die Gestalt.

      Simon wachte auf, noch bevor sein Wecker klingelte. Er lag noch immer in der Ecke neben dem Schreibtisch. »Was ist denn hier los?«, brummte er verschlafen und stand auf. Da war er heute Nacht ja wirklich aus dem Bett gefallen! Mann o Mann! Früher als Kind hatte er oft unruhig geschlafen, das wusste er von seinen Eltern. Da hatte er sich immer mal den Kopf an der Wand gestoßen oder er war aus dem Bett gefallen. Aber so weit bis zum Schreibtisch? Das war rekordverdächtig. Simon rieb sich den Hinterkopf. Auch sein Kinn und seine Nase schmerzten. Wie war er da heute Nacht bloß gefallen?

      Plötzlich fiel ihm sein Traum der vergangenen Nacht wieder ein. Wie er selbst als zweite Gestalt ihn hochgezogen und aus dem Bett geboxt hatte. »Es kann nicht jeder Simon Köhler sein«, hatte er heute Nacht zu sich selbst gesagt. »Versuche dich zu akzeptieren und du selbst zu werden. Dann musst du nicht andere kopieren wie ein billiger Doppelgänger.« Verrückt. Simon schüttelte den Kopf und ging nach oben ins Bad. War dieser Traum eine Vision? Sollte ihm das was sagen? Warum sollte er sich selbst akzeptieren? Das tat er doch! Und soweit er das überblickte, versuchte er auch niemanden zu kopieren. Andere versuchten eher ihn zu kopieren. Eigentlich war er mit sich selbst doch ganz zufrieden. Na ja, abgesehen von seinem fehlenden Muskelpaket, aber das konnte ja noch kommen. Bei einem Blick in den Spiegel fiel ihm auf, dass er getrocknetes Blut unter der Nase hatte. Wie konnte das sein? Hatte er sich heute Nacht selbst geschlagen? Im Traum sozusagen mit sich selbst gekämpft?

      Während er unter der Dusche stand, trat dieser Traum immer deutlicher in sein Bewusstsein. Was hatte das alles zu bedeuten? Man müsste mal einen Traumdeuter befragen. Oder einen Psychologen. Der hätte sicher seine wahre Freude an einem solchen Traum. »Akzeptiere dich selbst. Du bist nicht Simon Köhler.« Simon musste lachen. Und mit der heißen Dusche glitten die Angst und das unheimliche Erlebnis von heute Nacht wieder von ihm ab.

      Das Brot, das seine Mutter ihm wie jeden Morgen geschmiert und wie seit fast fünfzehn Jahren auf sein »Bob-der-Baumeister«-Brettchen gelegt hatte, schlang er in weniger als einer Minute hinunter. Eigentlich hasste er es, dass er mit diesem Essbrettchen immer noch in die Mein-lieber-kleiner-Junge-Schublade gesteckt wurde. Aber irgendwann hatte er beschlossen, dieses Kindergartenbrettchen gar nicht zu beachten, solange da immer noch ein geschmiertes Brot drauf lag. Er befürchtete, wenn er mal über das Essbrettchen meckern würde, würden auch die geschmierten Brote wegfallen. Auf diesen morgendlichen Luxus wollte er nicht verzichten, und so ließ er seine Mutter in dem Glauben, er freute sich noch über dieses beknackte Brettchen.

      Wie jeden Morgen saß seine Mutter am Esstisch mit einer Kaffeetasse in der Hand vor ihren eigenen geschmierten Broten und wartete mit dem Essen, bis Simon in die Küche kam. Dann hatte sie immer den »Willst du denn gar nicht mehr mit mir zusammen frühstücken?«-Blick drauf, sagte aber nie etwas dazu. Und weil sie nichts sagte, brauchte Simon auch nicht zu antworten. Er verzichtete aber darauf, ihr durch einen allzu freundlichen Blick Hoffnung darauf zu machen, dass er jemals wieder wie zu Kindergartenzeiten gemeinsam mit ihr frühstücken würde. Zeitgleich mit Simons erstem Biss in sein Brot biss auch die Mutter in ihr Brot. Das schien ihr das Gefühl zu geben, die beiden würden doch noch zusammen frühstücken. Das müsste echt mal einer erforschen, was da in so einem verdrehten Mutterkopf alles vor sich ging. Für normale Menschen kaum nachvollziehbar. Als die Mutter das zweite Mal in ihr Brot biss, hatte Simon bereits das komplette Frühstück in den Mund geschoben, gekaut und runtergeschluckt.

      »Geht’s dir wieder besser?«, fragte sie besorgt.

      Simon hatte sich die Schultasche um die Schulter geworfen und war schon bei der Tür. Aber dann drehte er sich doch noch mal um und fragte vorsichtig: »Wieso?«

      »Na ja, ich meine nur. Weil du gestern so … so komisch warst. So aufgeregt und durcheinander.«

      Woher wusste sie das denn? Hatte sie etwa was mitgekriegt? Nur weil er kurz im Wohnzimmer nachgeschaut hatte, ob sie noch lebten? Hallo? »Es ist alles in Ordnung«, sagte er knapp.

      »Ja, das hast du gestern auch gesagt«, sagte die Mutter und hatte ihren besorgten »Du-hast-doch-was-mein-Kind«-Blick aufgelegt.

      »Echt? Hab ich das?« Wann sollte er das gesagt haben? Manchmal hörten Mütter auch Sachen, die sie gerne hören wollten, die aber nie jemand gesagt hatte.

      »Alles in Ordnung«, sagte er noch mal.

      »Und mit wem hast du da so laut geredet?«, fragte sie dann noch.

      Jetzt stockte Simon erst recht. »Geredet? Mit wem denn?«

      »Das weiß ich ja nicht. Es klang so, als hättest du dich mit jemandem gestritten.«

      Simon schluckte. Jetzt wurde die Sache langsam unheimlich und er wollte das hier lieber nicht vertiefen. »Ich glaub, ich hab im Schlaf gesprochen. Nix Schlimmes.« Und damit ging er zur Küche hinaus und ließ die Mutter mit ihrem Brot dort sitzen.

      Kurz nachdem er an der Bushaltestelle angekommen war, kam auch sein Kumpel Jan dazu.

      »Du hast dich aber beeilt«, sagte Jan zur Begrüßung.

      »Beeilt? Wieso?«

      »Na ja, dass du so schnell deine Schultasche geholt und was Sauberes angezogen hast.«

      Was sollte denn der Mist jetzt? Machte er sich über ihn lustig? War er sonst zu langsam und zu dreckig? Gefielen ihm seine Klamotten nicht?

      »Guck dich doch selber mal an«, brummte er nur.

      »Halt’s Maul«, gab Jan zurück. Damit war ihre Unterhaltung vorerst beendet.

      Der Bus kam. Während Simon einstieg, sah er, dass von weit hinten noch jemand angerannt kam. Der würde den Bus sicher nicht mehr kriegen. So ein Idiot. Früher aufstehen, konnte man da nur sagen. Simon und die anderen wurden im Gang des Busses nach hinten gequetscht. Der Bus rollte an. Durch das Fenster konnte Simon sehen, wie der Typ, der den Bus noch kriegen wollte, wie ein Verrückter rannte. Fast war er auf Höhe des Busses, aber zum Mitfahren war es leider zu spät. Einen kurzen Augenblick schaute er von draußen in den Bus hinein und traf dabei zwischen all den Fahrgästen zielsicher Simons Blick. Im nächsten Moment wurden Simons Knie weich und er musste sich an den benachbarten Sitzen festhalten. Da draußen war der Typ aus seinem Traum gelaufen! Er selbst! Sein Gegenüber, sein anderes Ich!

      »Da!«, entfuhr es ihm. »Jan, hast du den gesehen, der da neben dem Bus hergelaufen ist?«

      »Nein.«

      »Mist!« Simon bekam Schweißausbrüche. Verfolgte ihn etwa sein eigener Schatten?

      Jan schien sich über nichts zu wundern oder er war noch sauer wegen der Bemerkung vorhin. Er schaute demonstrativ in eine andere Richtung. Simon hielt sein Handy in die Höhe, um ein Foto von dem Typ da draußen zu machen. Aber dafür war der Bus schon zu weit weg.

      In der Schule lief eigentlich alles ganz normal. Hin und wieder blickte sich Simon in alle Richtungen um, ob seine Geistererscheinung noch mal zu sehen war. Aber sie blieb verschwunden. Simon hoffte, dass der Spuk damit ein für alle Mal ein Ende hatte.

      Im Bio-Unterricht saß er so, dass er die ganze Stunde über Nadja anschauen konnte. Die war echt der Hammer. Schulterlange, blonde Haare, die ihr, wenn sie den Kopf nach vorne beugte, immer seitlich über das Auge fielen. Wenn sie dann ihren Kopf wieder nach oben richtete und mit einem Finger die Haare aus dem Gesicht strich, hatte sie dabei einen Augenaufschlag unter ihren dunklen, schmalen Augenbrauen, dass Simon jedes Mal fast verrückt wurde. Wenn sie dabei auch noch zufällig in seine Richtung sah und er in ihre dunkelblauen Augen schauen konnte, hatte Simon das Gefühl, beinahe ohnmächtig zu werden.

      Die halbe Schulzeit über war sie damit beschäftigt, Zeichnungen in ihrem Collegeblock