Das Gartenhäuschen. Ob der Fremde da hinein geflohen war? Simon näherte sich dem Häuschen und fragte sich gleichzeitig, ob er sich überhaupt trauen würde da reinzugehen. Was, wenn da wirklich einer drinsaß? Ein Einbrecher, ein Mörder oder sonst ein Verbrecher? Der würde ihn doch im Handumdrehen überwältigen. Neben der Tür zum Gartenhaus lag ein Schraubenzieher von seinem Vater. Mit einem schnellen Griff hob er ihn vom Boden auf und hielt ihn in die Luft wie einen Dolch, mit dem man jederzeit zustechen konnte. Sollte hier wirklich jemand sitzen und sich auf ihn stürzen, würde er das gnadenlos tun. Das schwor er sich in dem Augenblick, als er den Riegel an der Tür öffnete.
Der Raum stank nach Holz, altem Stoff und Grillkohle. Aber so sehr Simon auch die Ecken ausleuchtete, hier war niemand. Auf unheimliche Weise erleichtert, verriegelte er das Häuschen von außen, behielt aber den Schraubenzieher in der Hand, während er zurück durch den Garten auf das Haus zuging. Vor seinem Zimmerfenster blieb er stehen und leuchtete hinein. Genau hier hatte jemand gestanden. Hundert Prozent. Oder hatte er vor lauter Gewitterangst schon Gespenster gesehen? Hatte sich nur sein Spiegelbild verschoben? Gab es dafür nicht sogar eine physikalische Erklärung? Während er da stand und die Fensterscheibe seines eigenen Zimmers ausleuchtete, fiel ihm auf, dass er noch nie nachts um diese Uhrzeit allein hier im Garten gestanden hatte. Es war immerhin nach 12:00 Uhr. Geisterstunde. Als Zweites wurde ihm klar, dass er gerade mit dem Rücken zum riesigen Garten stand. Irgendjemand könnte sich ihm von hinten nähern. Er versuchte, sein Spiegelbild im Fenster zu erkennen. Und das, was da gerade hinter ihm vor sich ging. Waren da nicht sogar Schritte im Garten ganz in seiner Nähe? Seine Finger umklammerten den Schraubenzieher. Er biss seine Zähne noch fester zusammen. Schon meinte er zu spüren, wie jemand seinen Atem in Simons Nacken blies. Mit einem Ruck drehte er sich um und stach zu.
Nur Luft. Niemand da. Simon schüttelte den Kopf. Das wurde ihm jetzt doch zu dumm. Er würde sich jetzt nicht noch weiter in alberne Gruselgeschichten hineinsteigern. Wahrscheinlich hatte er sich das vorhin nur eingebildet. Fertig, aus. Mit schnellen, entschlossenen Schritten ging er um das Haus zurück bis nach vorne zur Haustür. Sie war immer noch angelehnt, aber während er sich hineinschlich und die Tür von innen schloss, krochen schon wieder unheimliche Gedanken in ihm hoch. Jemand hätte, während er selber hinten im Garten war, vorne zur Haustür reingehen können. Unweigerlich schaute er sich in seinem eigenen Hausflur um, ob er beobachtet wurde. Er leuchtete jeden Winkel ab.
Was ihm niemals irgendwie schlimm vorkam, war ihm jetzt plötzlich doch unheimlich: Nicht nur Simons Zimmer lag in der unteren Etage des Hauses. Weil das Haus keinen Keller hatte, befanden sich auch der Heizungsraum und eine große Abstell- und Gerümpelkammer im selben Stockwerk. Wohnzimmer, Küche, Badezimmer – alles lag eine Etage höher. Nur das Schlafzimmer seiner Eltern war noch hier unten, direkt neben Simons Zimmer. Aber seine Eltern saßen oben im Wohnzimmer. Die hatten natürlich nicht mitbekommen, was sich hier unten in den letzten Minuten abgespielt hatte und wer hier rein- oder rausgegangen war. Wieso waren die eigentlich noch so lange auf? Die gingen doch sonst nicht so spät ins Bett.
Einem Impuls folgend flitzte er die Treppe nach oben und betrat das Wohnzimmer. Für einen Augenblick erwartete er schon, seine Eltern dort tot aufzufinden. Aber sie saßen vor dem Fernseher. Irgendein alter Krimi.
»Was ist los?«, fragte seine Mutter in dem Tonfall, als sei ihr kleiner Sohn krank geworden.
»Nichts, alles gut.« Simon versuchte, mit einem Blick alle Ecken des Raumes zu erfassen.
»Hattest du Angst vor dem Gewitter?« Wieder dieser ekelhafte Ich-besorgte-Mama-du-armer-kleiner-Sohn-Tonfall.
»Quatsch!«
»Was hast du denn mit dem Schraubenzieher vor?«
»Nichts!«
Simon verließ das Wohnzimmer wieder. Er hasste diese völlig überflüssigen und kontrollierenden Elternfragen. Das hatte schon wieder was von: »Na, Simon, du hier im Wohnzimmer mit einem Schraubenzieher? Du wirst doch nicht um diese Uhrzeit noch an deinem PC rumschrauben? Du solltest doch schon längst im Bett sein!« Oder irgend so eine Eltern-Kacke. Die sollten mal froh sein, dass er überhaupt nach ihnen geschaut hatte! Er wäre der Erste gewesen, der die Leichen gefunden und der dann die Polizei und den Notarzt gerufen hätte! Obwohl er dann sicher eine gute Erklärung gebraucht hätte, warum die Eltern tot waren und er einen Schraubenzieher in der Hand hielt. Egal. Es war ja niemand tot und der böse Simon trug trotzdem um 1:00 Uhr nachts noch einen Schraubenzieher durch die Wohnung. Klarer Fall fürs Jugendamt.
Schnell, aber ohne Hektik knipste er in allen Räumen im oberen Stock die Lichter an, schaute sich um, löschte sie wieder und ging die Treppe nach unten. Zur Sicherheit noch ein Blick ins Schlafzimmer der Eltern – Licht an, Licht aus – alles in Ordnung. Unter dem Bett der Eltern hatte er nicht nachgeschaut. Man musste es ja nicht übertreiben. Er war ja nicht in einem Horrorfilm. Doch als er das Licht in der Abstellkammer einschaltete, nahm er den Schraubenzieher lieber noch mal in Kampfstellung in die Hand. So viele Kisten, Bretter, Regale und andere Sachen, hinter denen sich jemand verstecken könnte. Aber den Gefallen würde er dem Verbrecher jetzt nicht tun, jede Kiste zu öffnen und so was wie: »Na, wo ist denn der böse, böse Mörder?« zu faseln. Also. Licht aus, Tür zu. Außen steckte ein Schlüssel. Zur Sicherheit drehte er ihn einmal um. Auch die Tür zum Heizungsraum hatte außen einen Schlüssel. Zack – drehte er den Schlüssel um, ohne in den Raum zu schauen. Wenn dort jemand saß, wäre er für ihn zumindest in dieser Nacht ungefährlich.
Zuletzt kam er wieder in sein Zimmer. Licht an – und als Erstes: Rollo runter! Egal, ob er sich selbst damit als feige abstempelte. Für heute Nacht ging Sicherheit vor. Schnell zog er sich aus und den Schlafanzug an. Bevor er ins Bett stieg, warf er doch noch mal einen Blick darunter. Nein, da lag kein Monster mit aufgerissenen Augen, das ihn jetzt mit seinen langen Armen unters Bett ziehen würde. Da lag gar nichts. Nur Staub. Vielleicht war da soeben ein Vampir gestorben. Sollte er doch. Simon würde jetzt schlafen und den ganzen Spuk vergessen. Licht aus.
In der Nacht hatte Simon einen Albtraum: Jemand zog seine Bettdecke weg, riss ihn am Schlafanzug in die Höhe und verpasste ihm einen Kinnhaken, der es in sich hatte. Simon flog in die Ecke neben seinen Schreibtisch und verletzte sich dabei am Hinterkopf.
»Du Dreckskerl!«, hörte er eine vertraute Stimme rufen. »Wer bist du?«
»Was soll das?«, presste Simon hervor und versuchte, seine Augen aufzukriegen. »Ich bin Simon. Simon Köhler. Und wer bist du?«
»Ich!«, brüllte der andere. »Ich bin Simon Köhler! Ich allein! Und ich verlange jetzt eine Erklärung! Was hast du vor? Was ist dein Plan? Warum sollte ich sterben?«
Simon war noch viel zu benommen, um irgendwas zu kapieren: »Was soll das? Was willst du? Niemand muss hier sterben. Verschwinde aus meinem Zimmer!«
»Das ist mein Zimmer!«, schimpfte der andere. »Du schläfst in meinem Bett! Und das findest du auch noch lustig, was? Ich sag dir was. Es kann nicht jeder Simon Köhler sein. Sieh das ein. Versuch, dich zu akzeptieren und du selbst zu werden. Dann musst du nicht andere kopieren wie ein billiger Doppelgänger! Hast du verstanden?«
Simon fasste sich an sein Kinn und an seine Nase. Er hatte das Gefühl, es würde überall bluten. Mit Mühe blinzelte er und versuchte die Augen zu öffnen. Es war viel zu hell im Zimmer. Jemand hatte das Licht angemacht. Er war total geblendet, darum konnte er die Gestalt nicht richtig erkennen, die da vor ihm stand. Aber das, was er sah, sah aus wie er selbst. Sein Spiegelbild. Was war das? War er tot? Konnte er sich jetzt selbst von außen sehen? »Ich bin Simon Köhler«, sagte Simon müde und fragte sich gleichzeitig, warum er überhaupt so eine bescheuerte Diskussion mitten in der Nacht führen musste. »Und ich will ins Bett.«
»Na gut«, sagte der andere wieder mit bedrohlicher Stimme. »Dann schlaf von mir aus diese Nacht in meinem beknackten Bett. Aber morgen verschwindest du ein für alle Mal aus meinem Zimmer, verstanden? Und wenn ich dich morgen oder in den nächsten Tagen noch einmal hier in der Nähe meines Hauses sehe, dann prügel ich dir die Birne weich! Ist das klar?«
Ich