13 Wochen. Harry Voß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harry Voß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783955683092
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Eingang und beobachtete, wer noch alles hereinkam. Die wenigsten davon kannte er. Aber alle schienen ein grimmiges, zerknirschtes oder zumindest unausgeschlafenes Gesicht zu machen. Musste man so aussehen, wenn man hierherkam? War das etwa das unterirdische Höhlengesicht? Oder das allgemeine Gottesdienstgesicht? Oder kamen einfach nur Leute mit solchen Gesichtern in einen Gottesdienst? Simon konnte sich nur an wenige Male erinnern, an denen er jemals in einem Gottesdienst gewesen war. Aber auch da hatten alle Anwesenden Gesichter gemacht, als säßen sie auf ihrer eigenen Beerdigung. Schon ein merkwürdiges Volk von Menschen, die sich offensichtlich dazu entschieden hatten, ein saures, düsteres und unspaßiges Leben zu führen, das man sich obendrein noch mit sauren, düsteren und unspaßigen Gottesdiensten vollends vermieste. Wobei Simon zugeben musste, dass er heute in seiner Ecke gut in diese Gesellschaft passte: sauer, düster und unspaßig. Genau so, wie sich sein Leben seit einer Woche anfühlte.

      Plötzlich wurde sein Blick magisch auf den Eingangsbereich gelenkt: Nadja kam herein. Zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder. Zügig, aber ohne Hektik. Obwohl sie fast die Letzten in diesem Gottesdienst waren, schienen sie nicht hinten stehen bleiben zu wollen. Zielsicher bahnten sie sich einen Weg durch die herumstehenden Trauergäste und gingen nach vorne. Kurz bevor Nadja zwischen zwei schwarzen Mantelträgern verschwand, schaute sie zufällig in seine Richtung. Ihre Blicke begegneten sich sofort. Nur eine Sekunde. Aber das reichte schon, um ihren Gesichtsausdruck augenblicklich gefrieren zu lassen. Eiseskälte blitzte aus ihren Augen, dann ging sie weiter und drehte sich kein einziges Mal mehr zu ihm um. Simon hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, ihren Blick mit einem Lächeln zu erwidern. Ihre kalten Augen hatten seine Mundwinkel erstarren lassen.

      Nachdem Nadja und ihre Familie im vorderen Bereich ihren Platz gefunden hatten, an dem sie anscheinend für den Rest des Gottesdienstes stehen bleiben wollten, bewegte sich Simon langsam von seinem Platz aus so weit zur Seite, bis er ungehinderte Sicht auf Nadja bekam. Und so blieb er stehen. Seine Augen immer auf Nadja geheftet, in der Hoffnung, seine Blicke würden sich so fest und warm in ihren Hinterkopf bohren, dass Nadja sich umdrehen und ihn anschauen musste. Aber das geschah nicht.

      Der Ablauf des Gottesdienstes kam ihm wie ein Strafgericht vor. Zu Beginn spielten vier Personen mit unterschiedlich großen Streich­instrumenten irgendeine Todesmusik, die zwar gut in dieses unterirdische Gemäuer passte, aber sonst nur in einem Psycho-Thriller eine Daseinsberechtigung hatte.

      Der Pfarrer, oder wer auch immer das war, begrüßte die Versammelten. Er hatte dabei eine Grabesstimme, als wollte er diejenigen, die nicht wirklich fest entschlossen waren zu bleiben, davon überzeugen, dass sie in der nächsten Stunde an jedem Ort dieser Welt besser aufgehoben wären als in dieser Einschläferungs-Veranstaltung. Doch Simon war entschlossen zu bleiben.

      »Wir sind hier zusammengekommen, um an das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus Christus zu denken«, begann er. Simon schossen automatisch tausend Pfarrerwitze in den Kopf. Wie konnte irgendjemand ernsthaft so einem Menschen zuhören, wenn der sich alle Mühe gab, seiner Tonlage alles an Meditativem und Einschläferndem zu geben, das er aus seinem Innersten rausholen konnte? Bestimmt war der Pfarrer nebenberuflich Sprecher für Meditations-CDs, auf denen er zu sphärischen Klängen unentwegt murmelte: »Du wirst müde, ganz mü­de. Deine Augen werden schwer, ganz schwer. Du musst schlafen, nur noch schlafen.« Und in diesem Tonfall brauchte er in solchen Got­tesdiensten einfach nur die Worte auszutauschen: »Wir sind hier zu­sammengekommen, um nachzudenken. Und wir neigen uns. Und wir wer­den stille. Ganz stille.«

      Ein Lied wurde gesungen, begleitet von dem Streichquartett. Eine Lesung aus der Bibel. Noch ein Lied, ein Gebet, ein Vortrag der Geigenspieler. Puh, die gaben sich hier echt alle Mühe, um einem den Gottesdienst gründlich zu vermiesen. Alles, was man an Foltereinlagen aus dem Musikunterricht, von Geschichtslehrern und Laber-Vorlesestunden im Reli-Unterricht kannte, wurde hier in eine einzige Stunde gepresst. Damit es noch langweiliger wurde, ließ man sich für jeden einzelnen Programmpunkt so lange Zeit, dass einem alle zehn Minuten die Füße einschliefen und wieder aufwachten. Simon blieb tapfer. Er wollte in Nadjas Nähe sein. Und ihr nachher vielleicht noch ein Lächeln schenken. Und wenn alles gut ging, noch etwas Nettes sagen. Dazu musste er diese Gruselveranstaltung aber durchhalten. Kurz entschlossen zog er sein Handy aus der Tasche und vertiefte sich in eines der Online-Spiele. So würde er die Zeit schon rumkriegen.

      Nach der Endlos-Predigt des Pfarrers vermutete Simon, jetzt könnte es nicht mehr allzu lange dauern. Die Geigenspieler quälten noch einmal Simons Ohren. Während er sein Handy einsteckte, schaute er sich vorsichtig in dieser Versammlung um. Konnte es wirklich sein, dass all diesen Menschen hier diese Kammer-des-Schreckens-Musik gefiel? Die Hut- und Mantelträger schauten alle träge und verschlafen vor sich auf den Boden oder lustlos zu dem Musikquartett. Einige standen in der Nähe des Ausgangs, als warteten sie nur auf das Ende der Veranstaltung, damit sie dann als Erste wieder ins Freie rennen konnten.

      Plötzlich erstarrte Simon. Ganz in der Nähe der Ausgangstür stand ein Typ in der gleichen Jacke, wie Simon sie hatte. Eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, aber nicht tief genug, um unerkannt zu bleiben. Die Hände in die Jackentasche gesteckt, insgesamt etwas ungepflegt – aber kein Zweifel: Das war der Typ, der ihn schon seit drei Wochen verfolgte! Und als hätte Simons Blick magische Kräfte, drehte der andere genau in diesem Augenblick seinen Kopf zu Simon und starrte ihm mitten ins Gesicht. Simon wurde kreidebleich. Ihm war es, als würde er in einen Spiegel blicken. Als stünde da gerade sein lebendig gewordenes Spiegelbild. Unfassbar! Am liebsten wäre Simon sofort auf diesen geheimnisvollen Menschen zugestürzt und hätte ihn hier vor all den Leuten verprügelt. Aber dieser elektrisierende Blickkontakt ließ ihn in seiner Bewegung gefrieren und Simon konnte mehrere Sekunden nichts anderes tun als dastehen und sein magisches Gegenüber anglotzen.

      Dann drehte sich der andere um, bewegte sich rasch auf die Ausgangstür zu und ging nach draußen. Eigentlich hatte Simon vorgehabt, auf Nadja zu warten. Aber noch mehr hatte er sich vorgenommen, diesen überirdischen Fremden zu jagen und ein für alle Mal auszuschalten. Er spürte, wie Wut und Hass in ihm zu kochen begannen. Und ohne zu zögern, quetschte er sich an den Umherstehenden vorbei und verließ ebenfalls die Kirchengrotte. Zuerst musste er blinzeln, um seine Augen wieder an das helle Tageslicht zu gewöhnen. Aber dann schaute er sich schnell nach allen Seiten um. Und dann erkannte er diesen Typen, wie er gerade die Straße entlangging und sich, kurz bevor er hinter einer Häuserwand verschwand, noch einmal umdrehte und wieder direkt in Simons Augen schaute. Dieser Kerl wusste also, dass Simon nach ihm Ausschau halten würde. Er wusste, dass er etwas Verbotenes tat. Ihm war klar, dass er einen unschuldigen Menschen wochenlang tyrannisiert hatte. Aber jetzt war die Gelegenheit da. Jetzt würde Simon diesem Spuk ein Ende setzen. »Bleib stehen!«, rief er laut. Von wildem Kampfgeist angespornt rannte er los. Als er auf der Straße angekommen war, sah er, wie der andere gerade um eine Häuserecke rannte. Aha. Er ergriff die Flucht. Na schön. Sollte er doch. Simon würde ihn schon einholen. Er rannte schneller. »Bleib sofort stehen!«, brüllte er aus voller Kehle, aber der andere hörte nicht auf ihn. Nach jeder Ecke war er kurz zu erkennen, bevor er hinter einer weiteren Häuserecke verschwand. Simon rannte wie verrückt. Er hatte sich geschworen, diesen Kerl zu kriegen. Und er würde alles daransetzen, um ihn einzuholen und ihm sein Gehirn aus der Birne zu prügeln. Aber so was von! Dummerweise war der andere auch recht schnell. Der Abstand zwischen den beiden verringerte sich kein bisschen. Im Gegenteil. Der andere wurde noch ein bisschen schneller. Simon kam kaum noch hinterher. Aber er wollte nicht aufgeben. Nicht jetzt. Nicht hier. Wer weiß, wann er das nächste Mal die Gelegenheit bekommen würde, diesen Kerl zu erwischen!

      Am Stadtrand rannte der Fremde immer weiter. An den letzten Häusern vorbei, über eine kleine Wiese bis in den Wald. Plötzlich überfiel Simon ein gewisses Unbehagen. Er war noch nie in diesem Wald gewesen. Während seiner Kindheit war er ohnehin nur selten im Wald gewesen. Und wenn, dann nicht auf dieser Seite der Stadt. Wo rannte der Kerl hin? Lockte er ihn etwa in eine Falle? Was, wenn dort im Wald eine ganze Meute voller Doppelgänger, Zauberer, Gnome und Außerirdischer hauste? Oder zumindest Landstreicher, Gauner, Verbrecher, die zu allem bereit waren? Simon war allein. Und wie viele dort zusammen im Wald hausten, wusste er nicht. Dass der Fremde einfach nur so in den Wald flüchtete, konnte Simon sich kaum vorstellen. Sicher hatte er dort eine Behausung. Eine Höhle, eine Räuberhütte, einen Unterschlupf. Ganz automatisch wurde Simon langsamer. Sein Wunsch, den Fremden zu verfolgen, wich