8. Kapitel
Am Ostersonntag schien die Sonne so warm, dass die Eltern vorschlugen, einen Sonntagsspaziergang zu machen. »Wie früher«, schwärmte die Mutter. Normalerweise hätte Simon ihr dafür einen Vogel gezeigt und sich für den Rest des Tages in seinem Zimmer eingeschlossen. An diesem Tag witterte er aber eine Chance. »Sollen wir mal durch den Wald am anderen Ende der Stadt gehen?«, fragte er und legte etwas kindliche Begeisterung in seine Stimme.
»Von mir aus«, antwortete der Vater. Offensichtlich waren beide froh, dass Simon sich so schnell zu einem Spaziergang hatte überreden lassen.
An den Gesprächen der Eltern beteiligte er sich nicht. Und wenn die Mutter versuchte, Simon mit einer dummen Frage ein Gespräch aufzuzwingen, brummelte er nur eine kurze Antwort vor sich hin. Er war nicht hier, um soziale Familienkontakte zu pflegen, sondern um zu ergründen, was es mit seinem Schatten auf sich hatte. Bald schon waren sie an genau der Stelle angekommen, an der er vor zwei Tagen seinen Verfolger verloren hatte. Ab jetzt wurde es interessant. Zu dritt gingen sie den Weg weiter. Die Eltern schlenderten wie zwei Spaziergänger aus dem Seniorenheim. Simon schlich diesen Waldweg geradezu wie ein Panther entlang, der jederzeit bereit war, mit einem Sprung seine Beute hinter einem der Büsche zu ergreifen und in Stücke zu reißen.
Hier und da begegneten sie auch anderen Spaziergängern, die aber alle ganz harmlos aussahen und die auch keinem Räuber in die Hände gefallen zu sein schienen. An einer Stelle machte der Weg eine Abzweigung nach links. Durch die Bäume hindurch konnte Simon sehen, dass geradeaus eine große Waldlichtung lag. Auf einer großen Wiese stand ganz hinten ein altes, verfallenes Haus. Ein Hexenhaus?
»Was ist das für ein Haus?«, fragte Simon so beiläufig wie möglich.
»Die alte Mühle«, erklärte der Vater. »Mit einem Wassermühlrad. Da wurde früher Getreide zu Korn gemahlen.«
»Wie viel früher?«
»Keine Ahnung. Vor fünfzig oder hundert Jahren vielleicht. Als ich noch Kind war, da war die Mühle schon nicht mehr in Betrieb. Solange ich mich erinnern kann, ist sie bloß ein altes, halb eingestürztes Haus.«
»Und was ist da drin?«
»Nichts.«
»Nichts? Irgendwas muss doch da drin sein.«
Der Vater schaute sich im Weitergehen kurz nach der Mühle um, die man in der Ferne durch die Bäume hindurch schimmern sehen konnte. »Wie gesagt, das ist schon lange ein altes, verfallenes Haus. Ich glaube nicht, dass man es überhaupt betreten kann. Da kracht doch alles zusammen, wenn man dort reingeht.«
»Außerdem ist das auch verboten«, schloss sich die Mutter an. »Ich glaube, vor ein paar Jahren wurde mal überlegt, ob man die Mühle noch mal restaurieren und unter Denkmalschutz stellen sollte. Aber das war der Stadt zu teuer. Jetzt lässt man sie dort einfach verwittern, weil es der Stadt sogar zu teuer ist, sie abzureißen.«
Simon gab sich immer noch nicht zufrieden. »Kann es denn sein, dass da doch jemand wohnt? Ein Penner vielleicht? Oder ein Räuber?«
Vater lachte leise. »Sicher. Da wohnen die Räuber von den Bremer Stadtmusikanten und warten darauf, dass sie von den Tieren vertrieben werden.«
»Gibt es vielleicht Geschichten darüber, dass es dort spukt?«, fragte Simon vorsichtig, auch wenn die Gefahr bestand, dass er sich lächerlich machte.
»Hab ich nie gehört«, sagte der Vater knapp.
»Ich hab gehört, dass vor drei Wochen bei dem starken Gewitter ein Blitz genau in die Mühle eingeschlagen ist«, sagte die Mutter. »Wenn dir das als Spukgeschichte genügt? Vielleicht hat bei der Gelegenheit Doktor Frankenstein in der Mühle ein Monster aus zusammengenähten Leichenteilen zum Leben erweckt.«
Die Mutter grinste dabei, aber Simon wurde im selben Augenblick schlecht. Ein Monster zum Leben erweckt … Leichenteile … jemand, der so aussah wie Simon … Wald … Mühle … Sein Herz raste und fühlte sich an, als würde es gerade von einer eiskalten Hand umschlossen. Während er laut keuchend nach Luft schnappte, spürte er, wie sein Blickfeld enger wurde und schwarze Schleierwolken sich vor seinen Augen zusammenbrauten. Das Letzte, was er sah, war seine Mutter, die besorgt ihre Hände vor der Brust faltete. Dann brach er bewusstlos zusammen.
Natürlich war Simon kurz nach seinem Ohnmachtsanfall wieder zu sich gekommen. Seine Eltern hatten ihn auf den Rücken gelegt, seine Beine nach oben gehalten und ihn auf dem Nachhauseweg von beiden Seiten gestützt. Zu Hause musste er viel essen und trinken und sich in seinem Zimmer gut ausruhen. Simon ärgerte sich über diese Bemutterung, und ihm ging es auch schnell wieder besser. Trotzdem befiel ihn eine unbeschreibliche Angst. Was hatte dieser Typ, der ihn verfolgte und der die Zukunft kannte, mit dieser Mühle zu tun? Simon glaubte nicht an Geister und Gespenster. Aber dieser Fall war doch schon sehr mysteriös. Und neben dem Wunsch, diesen anderen Kerl, dieses Monster, zu schnappen, wuchs in ihm allmählich die Angst.
In den nächsten Tagen versuchte er Jan zu überreden, mit ihm nach draußen zu gehen und die alte Mühle einmal näher zu untersuchen. Aber Jan ließ sich nicht breitschlagen. Lieber wollte er mit Simon weiter PC zocken. Das taten sie dann auch. Trotzdem schaute sich Simon jedes Mal, wenn er auf den Straßen zwischen Jan und seinem eigenen Haus unterwegs war, nach geheimnisvollen Schatten um. Es blieb aber alles normal.
Bis auf eine Nacht gegen Ende der Osterferien. Simon war noch wach, obwohl es schon nach Mitternacht war. Seine Mutter hatte ihn bereits darum gebeten, die Musik leiser zu stellen, weil die Eltern direkt nebenan schlafen wollten. Gerade hatte er nach seinem Schlafanzug gegriffen, da hörte er im Haus ein Knacken, das ihn zusammenzucken ließ. Jemand schlich durch den Flur, das war klar. Waren das seine Eltern? Könnte ja sein, dass einer der beiden noch mal aufs Klo musste, dazu mussten sie ja die Treppe nach oben gehen. Simon stellte die Musik aus und lauschte. Eine Tür hier unten im Flur wurde geöffnet. Die Abstellkammer. Sofort trat kalter Schweiß auf Simons Stirn. Das Monster war da. In seinem Haus. Direkt neben seinem Zimmer. Was hatte es vor? So leise wie möglich suchte Simon nach einem Gegenstand, den er als Waffe benutzen konnte. Er fand aber nichts Geeignetes. Schließlich griff er nach der Schere, die in der Stiftebox auf seinem Schreibtisch steckte. Er umschloss sie mit seiner Faust wie einen Dolch, mit dem man jederzeit zustechen konnte. Dann löschte er das Licht im Zimmer, stellte sich direkt an seine Tür und lauschte. Kein Zweifel, da kramte jemand in der Abstellkammer in den Sachen herum. Kurz darauf wurde die Abstellkammertür geschlossen. Stille. Jetzt stand das Monster also außen direkt vor seiner Zimmertür. Was hatte es vor? Wollte es zu ihm kommen? In sein Zimmer? Ihn umbringen? Wenn es jetzt tatsächlich in sein Zimmer käme, würde Simon kurzen Prozess machen. Er würde sich zuerst hinter der Zimmertür verstecken und das Monster langsam eintreten lassen. Und wenn es dann mitten im Zimmer stünde, würde er es von hinten anfallen und mit der Schere so lange darauf einstechen, bis es sich nicht mehr bewegte.
Der Schweiß drang bereits aus sämtlichen Poren seines Körpers. Sein aufgeregtes Keuchen konnte er kaum unterdrücken. Doch niemand betrat sein Zimmer. Stattdessen hörte er, wie die Haustür leise geöffnet und wieder zugezogen wurde. War das eine Falle? Sollte Simon denken, die Bestie wäre draußen? Stand sie hingegen noch im Flur und wartete nur darauf, dass Simon herauskam? Oder war sie wirklich abgehauen? Einen kleinen Spalt breit öffnete