»Ich seh dich!«, rief er laut, obwohl das überhaupt nicht stimmte. Aber er hoffte, seinen Gegner dadurch zu verunsichern. Es blieb still. Kein Geräusch, außer seinem eigenen Schnaufen. Und dem Krächzen der Holzbalken, während er jetzt, immer noch auf dem Hintern Stufe für Stufe nach unten rutschte wie ein Kleinkind, das noch keine Treppen steigen konnte. Peinlich!
Unten angekommen, ging er noch einmal um das große Zahnrad in der Mitte herum. Seine Schritte klangen in seinen eigenen Ohren wie die eines Offiziers, der prüfend einen Raum inspizierte, ob er auch richtig sauber geputzt war. Er stellte sich vor, wie sein Gegner jetzt irgendwo hier in einem Versteck saß und sich tierisch vor diesen unheimlichen Schritten fürchtete. Ja, sollte er ruhig Angst bekommen, sofern Dämonen oder Frankensteinmonster überhaupt so etwas wie Angst empfinden konnten. Als er wieder bei der Tür angekommen war, blieb er noch eine Weile stehen und lauschte, ob noch ein Geräusch zu vernehmen war. Aber er hörte nichts. Vielleicht war dieses Wesen ja heute außer Haus. Auf Menschenjagd. Oder auf Simonjagd. Oder es wurde nur nachts sichtbar. Oder es war auf sonst irgendeiner verbrecherischen Beutetour. Wie auch immer – hier war jedenfalls niemand. Ein letztes Mal brüllte er bedrohlich: »Ich komme wieder! Verlass dich drauf!« Dann ging er nach draußen ins Freie.
Er nahm sich vor, an einem anderen Tag noch einmal wiederzukommen. Jetzt wusste er ja genau, wo der Widersacher sein Lager aufgeschlagen hatte. Jetzt konnte er jederzeit zurückkommen und nachschauen. Sein Selbstbewusstsein steigerte sich wieder, als er die Wiese durch das Tor verließ und wieder den Waldweg betrat.
Nach ein paar Metern zu Fuß durch den Wald sah er, wie ihm jemand auf dem Fahrrad entgegengefahren kam. Simon war auf dem Weg in die Stadt und der Radfahrer kam aus der Stadt und fuhr Richtung Waldmitte. Als das Fahrrad näherkam, erkannte er, dass es Nadja war. Sofort spürte Simon, wie heiße und kalte Wellen gleichzeitig in seinem Bauch Achterbahn fuhren. Wenn er überhaupt noch mal eine Chance bei ihr haben wollte, dann müsste er jetzt und hier aktiv werden. Nicht zu frech, aber auch nicht zu eingeschüchtert. Als sie nah genug herangekommen war, ging er an den Rand des Waldwegs, ließ eine Hand in der Hosentasche und hob die andere zum Gruß.
»Hallo«, grüßte er so normal, fröhlich und lässig wie möglich.
Das Lachen verschwand aus Nadjas Gesicht. »Mistkerl«, grüßte sie zurück und trat in die Pedale, um möglichst schnell an ihm vorbeizukommen. Simon zwang sich ruhig zu bleiben. Er bewegte sich dabei leicht auf das Fahrrad zu. »Nadja! Lass uns reden!«
Nadja wich mit dem Fahrrad aus. »Worüber denn?«
»Über … über den Teentreff!« Das war das Einzige, das ihm einfiel.
Nadja bremste scharf und blieb mit einem Bein auf dem Boden stehen. Der andere Fuß stand abfahrbereit auf dem Pedal. »Wie bitte? Über den Teentreff? Du hast die Frechheit, nach dem, was du mir angetan hast, über den Teentreff zu reden?«
»Ja, weil …« Simon kam sich wie ein kleiner Schuljunge vor, aber gab sich alle Mühe, nicht so auszusehen, »weil es so schön war, als wir zwei … also, ich meine … als wir alle zusammen im Teentreff waren. Das war so … zwanglos … und du hast so … süß gelächelt …« Dabei lächelte er selbst so süß wie möglich. Andere Mädchen wären bei diesem Lächeln schon längst schwach geworden.
Nicht aber Nadja. »Ach ja. Das tut mir leid. So ein Lächeln werde ich bestimmt nicht mehr aufsetzen, wenn du meinst, du kannst nach zwei Abenden im Teentreff über mich herfallen wie über ein Flittchen!«
»Was? Was meinst du damit? Das war ich gar nicht! Ich schwöre!«
»Hör auf zu schwören! Davon werden deine Angriffe auch nicht besser!«
»Ich hab nichts gemacht! Ehrenwort!«
»Auf dein Ehrenwort könnt ich kotzen!« Nadja trat wieder in die Pedale und wollte losfahren.
Etwas wie Hilflosigkeit gewann in Simon die Oberhand. Er hielt ihr Fahrrad am Gepäckträger fest. »Bitte, Nadja! Was auch immer ich gemacht haben soll – ich war das nicht! Wirklich!«
Nadjas Ton wurde immer schärfer: »Lass sofort mein Fahrrad los, du Arsch, oder du kannst was erleben!«
Simon erschrak über ihre Wut und ließ das Fahrrad los. »Ich war das wirklich nicht. Das war irgendein Doppelgänger von mir. Ich weiß selbst nicht, wer das ist.«
»Hör mal«, zischte Nadja leise, aber ebenso hart wie eben, »wenn du wenigstens so viel Mumm hättest zu dem zu stehen, was du da gemacht hast, dann könnte man ja noch darüber reden. Aber wenn du das nur abstreitest und mir dann auch noch was von einem Doppelgänger erzählen willst, seh ich nur, wie feige du bist. Und das ist einfach nur beschämend, weißt du das?« Sie setzte noch mal neu an, um das demütigendste Wort noch mal mit Nachdruck zu wiederholen: »Beschämend.« Damit drehte sie sich um, stieg auf ihr Fahrrad und fuhr in den Wald hinein. Ironischerweise lag in dieser Richtung auch die Mühle. Wenn da sein Doppelgänger jetzt drin gesessen hätte, dann könnte Simon sie direkt dorthin führen und eine Gegenüberstellung machen. Dann hätte er diesem Feigling ins Angesicht sagen können: »Gib zu, was du Nadja angetan hast, und bestätige, dass du es warst und nicht ich!« Aber die Hütte war ja leer. Zu dumm aber auch. Trotzdem brüllte er Nadja noch hinterher: »Schau in der alten Mühle nach! Da findest du die Auflösung der ganzen Scheiße!«
Dann ging er frustriert nach Hause. Weder diesen Mistkerl hatte er gefunden, noch hatte er Nadja besänftigen können. Es wurde Zeit, dass die Schule wieder begann. Er musste dringend wieder ein paar Lehrer und Leon, den Schwachmaten, in die Knie zwingen, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er noch der alte Simon war.
10. Kapitel
Am Abend klingelte es an der Haustür. Seine Mutter rief ihn: »Besuch für dich!«
Simon wären fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als er Nadja vor der Haustür stehen sah. »Nadja!«, rief er überrascht, aber sofort hatte er sich wieder gefangen. Wie wollte er noch gleich sein? Nicht zu überheblich, nicht zu zerknirscht. »Na?« Er legte ein Grinsen auf, von dem er meinte, es würde bei Nadja gut ankommen. »Komm rein.«
»Nein, ich wollte dich nur was fragen.«
Was konnte denn jetzt kommen? Hatte er schon wieder irgendwas Dummes angestellt? Oder sein verrücktes Gegenüber? Simon zwang sich zur Ruhe. Nur nichts anmerken lassen. »Ja, was denn?«
Nadja musterte ihn, als wollte sie eine Botschaft in seinen Augen lesen. Simon festigte seinen Blick. Freundlich, siegessicher, aber undurchdringbar. Niemand, dem er es nicht ausdrücklich erlaubte, konnte in Simons Augen irgendetwas lesen.
»Wer schläft eigentlich auf der Matratze dort in der Ecke?«, fragte Nadja gerade heraus.
Was? Welche Matratze? Simon schaute sich im Flur um. Hier lag keine Matratze. Plötzlich dämmerte es ihm: die Matratze in der Mühle! »Du bist in der Mühle gewesen!«, platzte es aus ihm heraus. »Du bist wirklich in der Mühle gewesen!« Simon schnaufte aufgeregt. »Du hast dich tatsächlich getraut! Wow! Na? Und? Hast du was gesehen? Hast du gesehen, dass da jemand wohnt?«
Nadja fixierte ihn mit einem ungewöhnlich lauernden Blick. Irgendetwas suchte sie an ihm: »Ja, kann sein.«
»Kann sein? Was heißt das? War da jemand? Die Matratze, sagst du! Ja! Die hab ich auch gesehen! Da schläft er! Oder es! Das Monster! Das gefährliche Etwas! Leider war es nicht da! Aber ich sag dir, er spioniert mir hinterher! Er sieht aus wie ich! Und immer, wenn irgendwo irgendwer was Blödes macht, dann war er es! Ich schwöre!« Sofort erschrak er über seine letzten Worte. »Tschuldigung. Nehm ich zurück. Ich schwöre natürlich nicht. Schwören ist ja … ähm … heilig. Weiß ich doch. Das darf nur Jesus, hab ich vergessen. Aber es ist wirklich so, wie ich sage. Da wohnt irgendwas Übernatürliches.«