Sobald aber jemand davon überzeugt ist, ein solcher Mensch sei Opfer eines Unglücks geworden, lassen sich hiergegen dieselben Einwände vorbringen, die im Zusammenhang mit dem Tod erhoben wurden: Der betreffende Mensch leidet ja nicht unter seinem Zustand. Es ist derselbe Zustand, in dem er sich im Alter von drei Monaten befunden hatte, nur daß er jetzt etwas größer ist. Damals haben wir ihn nicht bedauert, warum bedauern wir ihn eigentlich jetzt? Und wie dem auch sei, wen bedauern wir eigentlich? Den intelligenten Erwachsenen gibt es ja nicht mehr, und für ein Wesen, wie wir es jetzt vor uns haben, besteht alles Glück dieser Erde in einem vollen Magen und einer trockenen Windel.
Geht diese Einrede fehl, dann aufgrund einer irrigen Annahme über die zeitliche Beziehung zwischen dem Subjekt des Unglücks und den für das Unglück verantwortlichen äußeren Umständen. Hören wir also auf, uns ausschließlich auf das überdimensionale Baby vor uns zu konzentrieren, und denken wir an den, der er einmal war, und daran, wer er in diesen Tagen hätte sein können, dann ist sein Rückfall in diesen Zustand und der abrupte Abbruch seines natürlichen Erwachsenenlebens der klare Fall einer Katastrophe.
Das sollte uns davon überzeugen, daß es aus der Luft gegriffen ist, all das, was gut oder schlecht für einen Menschen sein kann, auf nichtrelationale Eigenschaften der Person, die ihr zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeschrieben werden können, beschränken zu wollen. In Wahrheit würden wir mit einer solchen Restriktion nicht nur Fälle hochgradiger Degeneration wie den oben geschilderten ausschließen, sondern darüber hinaus auch einen Großteil dessen, was über jemandes Erfolg oder Mißerfolg und all jene anderen Charakteristika seines Lebenslaufes entscheidet, die Prozesse sind. Ja, wir können sogar noch weiter gehen: Es gibt Güter oder Übel, die irreduzibel relational sind – Merkmale der Beziehung zwischen äußeren Umständen und einer in der gewohnten Weise raumzeitlich bestimmten Person –, die weder zu ihren eigenen Lebzeiten eintreten müssen noch an demselben Ort, an dem sie sich befindet. Zum Leben eines Menschen gehört vieles, das sich außerhalb der Grenzen seines Körpers und Geistes abspielt, und zu dem, was ihm widerfährt, kann auch mancherlei gehören, das sich außerhalb der Grenzen seiner Lebensdauer abspielt. Beispielsweise werden diese Grenzen bisweilen überschritten, wenn jemandem das Unglück widerfährt, getäuscht, verachtet oder betrogen zu werden. (Sollte sich diese Position als haltbar erweisen, können wir auch mühelos erklären, was unrecht daran ist, ein Versprechen zu brechen, das man am Sterbebett gegeben hat: Es ist eine Kränkung des Verstorbenen. Bisweilen ist es möglich, in der Zeit nur eine andere Form von Distanz zu sehen). Das Beispiel psychischer Degeneration zeigt, daß es manchmal vom Kontrast zwischen der Wirklichkeit und alternativen Möglichkeiten abhängt, ob etwas ein Übel ist. Für einen Menschen kann etwas nicht nur schlecht (oder gut) sein, weil er fähig ist zu leiden (oder sich zu erfreuen), sondern weil er auch Hoffnungen hat, die in Erfüllung oder nicht in Erfüllung gehen könnten, und Anlagen, die er entfalten oder nicht entfalten könnte. Ist der Tod ein Übel, werden wir uns an diesen Aspekt zu halten haben, und es sollte uns dann erst gar nicht stören, daß man das Übel nicht länger innerhalb des betreffenden Lebens zu lokalisieren vermag.
Stirbt jemand, so ist alles, was von ihm übrig bleibt, sein Leichnam. Nun kann ein Leichnam zwar zu Schaden kommen, ganz wie ein Möbelstück, doch wäre es völlig unangemessen, einen Leichnam zu bedauern. Bedauern kann man aber den Menschen. Er hat sein Leben verloren, und wäre er nicht gestorben, würde er dieses Leben heute noch immer führen und im Besitz all dessen sein, was es an Gutem ermöglicht. Wenden wir die Überlegung, die wir im Falle unseres Debilen angestellt haben, auf den Tod an, so können wir zwar ziemlich klar die räumliche und zeitliche Lokalisierung dessen, der den Verlust erlitten hatte, angeben, nicht aber so leicht die seines Unglücks. Wir müssen uns mit der Feststellung zufrieden geben, daß sein Leben aus und vorbei ist und es auf ewig bleiben wird. Dieses Faktum, und nicht etwa irgendein Zustand, in dem er sich jetzt befindet oder einst befand, macht sein Unglück aus, wenn es denn eines ist. Wenn es sich indes um einen Verlust handelt, muß es allemal jemanden geben, der ihn erleidet und der mithin existieren und einen genauen Ort in Raum und Zeit haben muß, selbst wenn dies für den Verlust nicht gilt.
Das Faktum, daß Beethoven keine Kinder hatte, mag uns veranlassen, ihn zu bedauern, und mag traurig für die Welt sein, aber niemand kann sagen, es sei ein Unglück für die möglichen Kinder, die er nicht gehabt hat. Ich glaube, jeder von uns ist glücklich zu schätzen, das Licht der Welt erblickt zu haben, aber solange es unmöglich ist, von einem Embryo oder erst recht von einem noch nicht verschmolzenen Paar von Keimzellen zu sagen, sie hätten Glück oder Pech, solange kann man auch nicht davon sprechen, daß es ein Unglück sei, nicht geboren zu werden. (Solche Faktoren spielen eine entscheidende Rolle, wenn es zu entscheiden gilt, ob Abtreibung oder Empfängnisverhütung womöglich etwas mit Mord zu tun haben könnten.)
Diese Überlegungen erlauben es nun, das Problem der zeitlichen Asymmetrie zu lösen, auf das Lukrez hingewiesen hat. Ihm fiel auf, daß niemand es beunruhigend findet, über jene Ewigkeit zu grübeln, die seiner eigenen Geburt voranging. Diese Feststellung schien ihm zu beweisen, daß es irrational sei, den Tod zu fürchten, da dieser doch nichts weiter sei als das Spiegelbild der dem Leben vorausliegenden Unendlichkeit. Das ist jedoch schlicht nicht wahr, und was beide Sachverhalte voneinander unterscheidet, liefert uns auch die Erklärung dafür, warum wir sie mit gutem Grund unterschiedlich behandeln. Es stimmt zwar, daß niemand in dem Zeitraum vor seiner Geburt oder nach seinem Tod existiert. Doch die Zeit nach unserem Tod ist die Zeit, die uns der Tod raubt. Wären wir nicht gestorben, wären wir zu dieser Zeit ja noch am Leben. Deshalb führt der Tod stets zum Verlust irgendeiner Lebensspanne, die sein Opfer noch erlebt hätte, wäre es nicht zu dieser oder einer früheren Zeit gestorben. Wir wissen nur zu genau, wie es für ihn gewesen wäre, wenn ihm dieses Leben noch geblieben wäre, das er verloren hat, und es bereitet uns keinerlei Mühe, denjenigen zu identifizieren, der diesen Verlust erlitten hat.
Aber es ist nicht möglich zu sagen, die Zeit vor der Geburt sei ebensogut eine Zeit, die dieser Mensch erlebt hätte, wäre er nur früher geboren worden. Denn abgesehen von einem unerheblichen Spielraum, der sich durch die Möglichkeit vorzeitig eintretender Wehen ergibt, hätte er gar nicht früher auf die Welt kommen können als zu der Zeit zu der er geboren wurde: Jeder, der wesentlich früher als er geboren worden wäre, wäre ein anderer gewesen. Folglich gilt für die Zeit vor seiner Geburt keineswegs, daß das zu späte Eintreten der Geburt etwa schuld daran war, daß er sie nicht erlebt hat. Gleichgültig wann einer das Licht der Welt erblickt, verliert er dadurch keine Sekunde seines Lebens.
Die Zeitrichtung ist entscheidend, sobald wir einem Menschen oder überhaupt einem Individuum Möglichkeiten zuschreiben. Verschiedene mögliche Leben einer einzelnen Person können, ausgehend von einem gemeinsamen Anfang, divergieren, aber sie können schwerlich aus unterschiedlichen Anfängen in einem gemeinsamen Ende zusammentreffen. (Im letzteren Fall würde es sich nicht um eine Reihe verschiedener möglicher Leben ein und desselben Individuums handeln, sondern um eine Reihe verschiedener möglicher Individuen, deren Leben gegen ein gemeinsames Ende konvergierten.) Wir können uns also für jedes identifizierbare Individuum unzählige mögliche Fortsetzungen seines Lebens vorstellen und uns immerhin vor Augen führen, wie es für dieses Individuum wäre, unendlich lange weiterzuexistieren. Wie unausweichlich es auch immer sein mag, daß dieser Fall nie eintreten wird, besteht doch diese beständige Möglichkeit als die Möglichkeit, daß das Gute am Leben kontinuierlich fortdauert (wenn sein Leben tatsächlich so gut ist, wie wir unterstellt haben).3
Es stellt sich mithin die Frage, ob die Nichtverwirklichung dieser Möglichkeit in jedem Falle ein Unglück sein muß, oder ob dies davon abhängt, was vom Weiterleben überhaupt noch zu erhoffen war. Das scheint mir die in Wahrheit gravierendste Schwierigkeit für die Position zu sein, daß der Tod jederzeit ein Übel sei. Selbst wenn es uns gelänge, das Befremden abzuschütteln, ob man überhaupt von einem Übel reden kann, wenn das Unglück nie erlitten wird oder einer Person nicht zu Lebzeiten zugeschrieben werden kann, bliebe nämlich noch die Frage, wie