Philosophischer Kritik der Sozialpolitik haftet indessen noch eine ganz andere Art von Absurdität an. Ohne Frage können moralische Urteilskraft und ethische Theorie für politische Problembereiche ebensogut Geltung beanspruchen wie für Schwierigkeiten der Individualethik, doch bleiben sie auf dem Feld des Politischen bemerkenswert unwirksam: Sobald es um handfeste und machtvoll verteidigte Interessen geht, will es einem immer unmöglicher scheinen, noch etwas durch Argumente verändern zu wollen, die an so etwas wie Anstand, Menschlichkeit, Mitgefühl oder Gerechtigkeitssinn appellieren, und seien sie noch so zwingend. Von nun an müssen sich solche Argumente auch noch gegen all die primitiven moralischen Regungen durchsetzen, die mit Ehre, Vergeltung und Autoritätshörigkeit einhergehen und sich in unsererem Zeitalter eine derart wichtige Rolle anmaßen, daß es mit einem Mal nicht mehr ratsam erscheint, in seinen politischen Appellen noch aggressives Handeln verdammen und Altruismus oder Humanität verlangen zu wollen. Schließlich setzt die Wahrung der Ehre allenthalben voraus, daß man zur Aggression bereit und dazu in der Lage ist, Regungen der Humanität in sich zu unterdrücken. Doch ist der Ehrbegriff freilich flexibel genug: Gerade er könnte dereinst vielleicht auch einmal so erweitert werden, daß er konkrete Anforderungen an die moralische Integrität mit einschließt. Im Hier und Jetzt allerdings ist das moralische Bewußtsein der Öffentlichkeit von diesem moralischen Profil noch weit entfernt.
Ich bleibe daher pessimistisch im Hinblick auf theoretische Ethik als eine Art öffentlicher Dienstleistung. Nur unter sehr besonderen Bedingungen, von denen ich mir noch kein allzu deutliches Bild machen kann, vermögen ethische Argumente mit einem Mal auch auf das konkrete Handeln von Menschen Einfluß zu gewinnen. Diese Bedingungen sind es, die man in einem Durchgang durch Geschichte und Psychologie der Moralen einmal zu untersuchen hätte – zwei besonders wichtige, wiewohl unzureichend entwickelte Forschungsgebiete, die nach Nietzsche in der Philosophie kaum noch beachtet wurden.
Mit Sicherheit hat es nicht ausgereicht, bloß die Ungerechtigkeit eines Handelns und die Illegitimität einer politischen Praxis drastisch vor Augen zu führen. Menschen müßten auch soweit sein, daß sie auf die Argumente hören, und solche Bereitschaft läßt sich durch kein bloßes Argument herstellen. Ich sage dies nur, um ausdrücklich zu betonen, daß das Geschäft der Philosophie, selbst wenn sie sich mit den brennendsten gesellschaftlichen Fragen beschäftigt, allemal theoretisch bleibt, und philosophische Schriften nicht etwa an ihrer praktischen Wirkung zu messen sind. Philosophie wird stets mit großer Wahrscheinlichkeit wirkungslos bleiben und könnte allein aufgrund der Publizität ihrer Themen noch keinen Vorrang vor Forschungen beanspruchen, die für die gesellschaftlichen Probleme irrelevant sind, deren Weltverständnis dafür aber einen weitaus größeren theoretischen Tiefgang erreicht. Ich bin mir nicht sicher, ob es nun wichtiger ist, die Welt zu verändern oder sie zu verstehen, doch Philosophie jedenfalls gehört zu den Disziplinen, die man allemal besser an ihrem Beitrag zum Verständnis als am Einfluß auf den Gang der Dinge messen sollte.
Der Tod
Warum eigentlich ist es schlimm zu sterben, wenn der Tod doch das Ende unserer Existenz ist, unwiderruflich und in alle Ewigkeit?
Die Meinungen in dieser Frage gehen auffallend weit auseinander. Für manche Menschen ist der Tod etwas Schreckliches, andere hingegen haben am Tod als solchem nichts auszusetzen, obwohl auch sie sich wünschen, daß er im eigenen Fall nicht zu bald eintritt, und wenn, dann kurz und schmerzlos. Während die Vertreter der einen Anschauung die der anderen schlicht für blind halten, da sie doch das Nächstliegende nicht erkennen, sehen andererseits diese in jenen nur die bedauernswerten Opfer einer Verwirrung. Die eine Seite kann geltend machen, daß das Leben alles ist, was wir haben, und sein Verlust das schlimmste Übel, das wir überhaupt erleiden können. Die andere Seite führt an, dagegen spreche doch aber gerade, daß der Tod diesen vorgeblichen Verlust ja seines Subjekts beraubt. Sobald wir erkennen, daß der Tod nicht etwa ein unvorstellbarer Zustand einer Person ist, die womöglich nach wie vor existiert, sondern an sich schlicht – nichts, werden wir auch einsehen, daß ihm weder eine positive noch eine negative Valenz zugeschrieben werden kann.
Ich will die Frage ausklammern, ob wir in irgendeiner Weise unsterblich sind oder es überhaupt sein könnten. Deshalb werde ich mich für mein Teil mit dem Wort »Tod« oder verwandten Ausdrücken im folgenden auf den endgültigen Tod beziehen, auf jenen wirklichen Tod, der alle Formen bewußten Weiterlebens ausschließt. Ich werde diskutieren, ob der Tod an sich selbst etwas Schlechtes ist, wie groß dieses Übel gegebenenfalls ist, und von welcher Art. Dafür sollte sich sogar jemand interessieren, der an irgendeine Form der Unsterblichkeit glaubt, denn zwangsläufig hätte unsere Einstellung zu ihr zu einem Teil von unserer Einstellung zum Tod abzuhängen.
Ist der Tod ein Übel, dann nicht etwa aufgrund positiver Qualitäten, die wir ihm zuschreiben könnten, sondern allein aufgrund dessen, was er uns raubt. Die Schwierigkeiten, mit denen ich fertig zu werden versuche, entstehen im Umfeld der natürlichen Ansicht, daß der Tod deswegen ein Übel ist, weil mit seinem Eintreten all das Gute ein Ende hat, das uns das Leben bietet. Wir brauchen nicht im einzelnen darauf einzugehen, was hier mit dem Guten gemeint ist; wir sollten lediglich festhalten, daß einiges dazugehört – Wahrnehmen, Wünschen, Handeln und Denken –, das allgemein genug ist, um für das menschliche Leben als solches konstitutiv zu sein. Es ist eine weit verbreitete Ansicht, daß es sich hierbei um vorzügliche Himmelsgaben handelt, ungeachtet der Tatsache, daß es eventuell einer ausreichenden Anzahl einzelner Übel gelingen könnte, den Vorteil dieser Gaben aufzuwiegen, und daß sie Bedingungen für Freud und Leid gleichermaßen sind. Das, glaube ich, will gegebenenfalls die Bekundung ausdrücken, es sei schon gut, nur am Leben zu sein, gleichgültig wie entsetzlich das ist, was man durchmacht. Im großen und ganzen handelt es sich darum, daß es auf der einen Seite Komponenten gibt, die zu einem besseren Leben führen, wenn man sie der Erfahrung hinzufügt, und andererseits Komponenten, die der Erfahrung hinzugefügt das Leben schlechter machen. Was aber übrig bleibt, wenn man von diesen Komponenten absieht, ist eben nicht bloß neutral, es ist entschieden positiv. Deshalb ist das Leben lebenswert, selbst wenn sich die üblen Erlebnisse häufen und die guten so dürftig sind, daß sie allein keinen Ausgleich schaffen können. Den Ausschlag zum Positiven gibt dann die Erfahrung selbst, und nicht einer ihrer Inhalte.
Ich möchte hier nicht darauf eingehen, welchen Wert das Leben oder der Tod einer Person für andere haben können, und auch nicht, welches ihr objektiver Wert ist, sondern mich beschäftigt, welchen Wert der Tod für die Person selbst hat, die sein Subjekt ist. Das scheint mir der primäre Aspekt des Problems, aber auch der schwierigste zu sein. Ich möchte nur noch zwei Beobachtungen anfügen: Erstens kommt der Wert des Lebens und seiner Inhalte nicht dem bloßen organischen Überleben zu. Fast jedermann wäre es ceteris paribus egal, ob er auf der Stelle tot wäre oder nur in ein Koma fiele, das zwanzig Jahre später, ohne daß er je wieder erwacht wäre, mit dem Tod endete. Zweitens kann das Gute am Leben wie das meiste Gute durch die Zeit vervielfacht werden: je länger, desto besser. Dieser Prozeß muß keineswegs kontinuierlich vonstatten gehen (obwohl das etliche soziale Vorteile hätte). Manch einer fühlt sich von der Möglichkeit angezogen, die Körperfunktionen längere Zeit auszusetzen oder den Körper einzufrieren, um danach das bewußte Leben wieder aufzunehmen, und der Grund hierfür ist, daß er es aus der Innenperspektive einfach als Fortsetzung seines jetzigen Lebens bemerken würde. Angenommen, diese Techniken wären eines Tages weit genug entwickelt, könnte etwas, das von außen wie ein dreihundert Jahre dauernder Winterschlaf aussieht, vom Subjekt selbst lediglich als scharfer Bruch in der Kontinuität seiner Erlebnisse empfunden werden. Damit leugne ich natürlich nicht, daß auch dies seine Schattenseiten hätte. Freunde und Angehörige