Ein anderes Beispiel für ein solches reflexives wechselseitiges Erkennen finden wir im Phänomen des Bedeutens und der Bedeutung, denn bei ihm scheint die Absicht im Spiel zu sein, einer anderen Person eine Meinung oder andere Wirkung zu vermitteln, indem die Person auf ebendiese eigene Absicht, die Wirkung hervorzurufen, aufmerksam gemacht wird. (Diese Einsicht geht auf Grice3 zurück, dessen Position ich an dieser Stelle nicht im Detail referieren möchte.) Sexualität hat nun eine verwandte Struktur: Sie beinhaltet das Verlangen, daß der Partner dadurch erregt wird, daß er mein Verlangen nach seiner Erregung bemerkt.
Es ist nicht ganz leicht, die elementaren Typen des Gewahrens und der Erregung zu definieren, aus denen sich diese Komplexe zusammensetzen, und deshalb bleibt meine Diskussion lückenhaft. In gewissem Sinne ist das Objekt des Gewahrens im eigenen Fall dasselbe wie beim sexuellen Gewahren einer anderen Person, obwohl das Gewahren in beiden Fällen nicht dasselbe ist; der Unterschied ist ebenso beträchtlich wie der zwischen dem Gefühl, ärgerlich zu sein, und dem Gefühl, den Ärger einer anderen Person zu verspüren. Alle Stadien sexueller Wahrnehmung sind verschiedene Ausprägungen der Identifikation einer Person mit ihrem Körper. Es wird nämlich die eigene oder eines anderen Unterwerfung unter, respektive das eigene oder das andere Eintauchen in den Körper wahrgenommen, ein Phänomen, das von Paulus und Augustinus mit Widerwillen erkannt wurde – beide hielten »das Gesetz der Sünde in meinen Gliedern« für eine gravierende Bedrohung der Herrschaft des heiligen Willens.4 Für sexuelles Verlangen und dessen Äußerung ist das Verschmelzen von unwillkürlicher Reaktion mit bewußter Kontrolle von eminenter Wichtigkeit. Die Erektion, aber auch die anderen unwillkürlichen physischen Komponenten der Erregung, symbolisierten für Augustinus die Revolution, die sein Körper gegen ihn führte. Auch Sartre betont die Tatsache, daß der Penis kein willkürlich kontrolliertes Organ ist. Aber bloße Unwillkürlichkeit ist auch für andere körperliche Vorgänge charakteristisch. Beim sexuellen Verlangen verbinden sich unwillkürliche Reaktionen mit der Unterwerfung unter spontane Impulse: Nicht nur der Puls und die Sekretion, sondern auch die Handlungen unterliegen der Herrschaft des Körpers; im Idealfall ist willkürliche Kontrolle lediglich erforderlich, um die Äußerung jener Impulse in geeignete Bahnen zu lenken. Bis zu einem gewissen Grade trifft dies auch auf einen Trieb wie den Hunger zu, aber in diesem Fall übt der Körper eine beschränktere, weniger umfassende und weniger extreme Herrschaft aus.
Der Körper wird nicht auf dieselbe Weise ganz von Hunger ausgefüllt wie er von Verlangen durchdrungen sein kann. Aber die Eigenschaft, die das spezifisch sexuelle Eintauchen in den Körper am besten hervorhebt, besteht darin, daß dieser Vorgang sich in den schon beschriebenen Komplex wechselseitiger Wahrnehmung einzufügen vermag. Hunger führt zu spontanen Interaktionen mit Nahrung; sexuelles Verlangen hingegen führt zu spontanen Interaktionen mit anderen Personen, deren Körper ihre Souveränität in gleicher Weise geltend machen, indem sie unwillkürliche Reaktionen und spontane Impulse in ihnen hervorrufen. Diese Reaktionen werden wahrgenommen und ihre Wahrnehmung wird ihrerseits wahrgenommen, und auch diese Wahrnehmung wird wiederum wahrgenommen. In jedem Stadium wird die Herrschaft des Körpers über die Person gefestigt, und der Sexualpartner kann durch physische Berührung, Penetration und Umklammerung leichter in Besitz genommen werden.
Verlangen ist also nicht allein die Wahrnehmung einer immer schon vorhandenen Verkörperung einer anderen Person, sondern im Idealfall trägt es zu deren weiterer Verkörperung bei, die dann ihrerseits wiederum das ursprüngliche Sich-Selbst-Empfinden des Subjekts verstärkt. Dies erklärt, weshalb es so wichtig ist, daß auch der Partner erregt ist, und zwar nicht einfach nur erregt, sondern erregt durch die Wahrnehmung meines Verlangens. Und es wird auch erklärt, in welchem Sinne Vereinigung und Besitz das Objekt des Verlangens sind: Physische Inbesitznahme hat auf die Erschaffung des sexuellen Objekts im Spiegel des eigenen Verlangens zu zielen, nicht nur darauf, daß das Objekt sich meines Verlangens und seiner eigenen privaten Erregung bewußt wird.
Auch wenn dies ein korrektes Modell reifer Sexualität sein sollte, wäre es indes unplausibel, jederlei Abweichung davon als pervers zu bezeichnen. Geben sich zum Beispiel die Partner beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr jeweils eigenen heterosexuellen Phantasien hin und umgehen sie auf diese Weise das Erkennen ihres eigentlichen Partners, handelt es sich nach unserem Modell um eine unvollkommene sexuelle Beziehung. Im allgemeinen gilt dies aber allemal noch nicht als Perversion. Solche Beispiele lassen vermuten, daß eine einfache Unterscheidung zwischen pervertierter und unpervertierter Sexualität zu stark nivelliert, um die Phänomene noch angemessen systematisieren zu können.
Doch eine ganze Reihe bekannter Abweichungen stellen verstümmelte oder unvollständige Abarten der vollständigen Konfiguration dar und können dann als Perversionen des wichtigsten Antriebs aufgefaßt werden. Wird sexuelles Verlangen daran gehindert, seine voll ausgeprägte zwischenmenschliche Form anzunehmen, ist es wahrscheinlich, daß es in anderer Form auftritt. Der Begriff der Perversion läßt darauf schließen, daß störende Einflüsse zu einer Abweichung von der normalen sexuellen Entwicklung geführt haben. Auf diese kausale Bedingung kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich eingehen. Doch wenn Perversionen in einem gewissen Sinne unnatürlich sind, müssen sie sich aus einer Beeinträchtigung der Entwicklung einer Fähigkeit ergeben, die potentiell vorhanden ist.
Es ist schwierig, diese Bedingung anzuwenden, weil situationsbedingte Faktoren bei allen Menschen die Ausprägung der spezifischen Form des sexuellen Antriebs beeinflussen. Insbesondere frühkindliche Erlebnisse scheinen die Wahl des sexuellen Objekts stark zu beeinflussen. Wenn aber einige Kausaleinflüsse störend, andere dagegen lediglich formend sein sollen, dann heißt das, daß gewisse allgemeine Aspekte humaner Sexualität ein fest umrissenes Potential realisieren, während viele der Einzelheiten, in denen sich die Menschen voneinander unterscheiden, Realisierungen eines unbestimmten Potentials sind: Diese Einzelheiten lassen sich deshalb nicht in natürliche oder weniger natürliche klassifizieren. Die Frage, worin das fest umrissene Potential besteht, ist deshalb von größter Bedeutung, wenngleich die Differenzierung zwischen einem fest umrissenen und einem unbestimmten Potential unklar ist. Offensichtlich kann ein Wesen, das nicht dazu in der Lage ist, die von mir beschriebenen Stadien interpersoneller sexueller Wahrnehmung auszubilden, nicht dieses Mangels wegen als abweichend bezeichnet werden. (Wenngleich sogar ein Huhn in einem erweiterten Sinn pervers genannt werden könnte, sobald es aufgrund von Konditionierung eine fetischistische Fixierung auf ein Telefon ausbildete.) Aber wenn Menschen die Tendenz haben, irgendeine Form wechselseitiger interpersoneller sexueller Wahrnehmung zu entwickeln, können Fälle, in denen diese Entwicklung blockiert wird, durchaus als unnatürlich oder pervers klassifiziert werden.
Einige bekannte Abweichungen lassen sich auf diese Weise beschreiben. Narzißtische Praktiken und Geschlechtsverkehr mit Tieren, Kindern oder leblosen Gegenständen scheinen bei einer primitiven Form des ersten Stadiums sexuellen Fühlens stehengeblieben zu sein. Handelt es sich um einen unbelebten Gegenstand, bleibt das Erlebnis völlig auf die Wahrnehmung der eigenen sexuellen Verkörperung beschränkt. Bei kleinen Kindern und Tieren kann zwar die Verkörperung des anderen wahrgenommen werden, aber die Reziprozität stößt auf Hindernisse: Es ist schwerlich möglich, daß das sexuelle Objekt das Verlangen des Subjekts erkennt und daraufhin beginnt, sich selbst sexuell wahrzunehmen. Auch Voyeurismus und Exhibitionismus sind unvollständige Beziehungen. Der Exhibitionist hat den Wunsch, sein eigenes Verlangen zur Schau zu stellen, braucht aber dabei selbst nicht verlangt zu werden; er kann sich sogar davor fürchten, die sexuelle Aufmerksamkeit anderer zu erregen. Und für einen Voyeur ist es nicht einmal notwendig, überhaupt von seinem Objekt wahrgenommen zu werden und schon gar nicht, daß das Objekt seine Erregung wahrnimmt.
Wenden wir unser Modell hingegen auf die unterschiedlichsten Formen heterosexuellen Geschlechtsverkehrs zwischen zwei erwachsenen