Durch Edward Giereks Leichtsinn kam meine Generation jedoch in den Genuß von Dingen, die zuvor der westlichen Jugend vorbehalten waren. So galt der Jazz nicht länger als zersetzende bürgerliche Musikform, und in den Läden tauchten Marlboro-Zigaretten und Coca-Cola auf. Wer Devisen hatte, konnte sich sogar den Traum der Träume verwirklichen und Original-Bluejeans kaufen. Meine Eltern arbeiteten beide bei staatlichen Baufirmen und verdienten überdurchschnittlich gut, doch nach dem Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt belief sich ihr Monatseinkommen trotzdem nur auf eine Handvoll Dollar. So erlangte jedwede Westware den Status einer Reliquie, ähnlich wie bei den Angehörigen gewisser Cargo-Kulte Gegenstände angebetet werden, die von irgendwelchen Schiffsmannschaften achtlos über Bord geworfen und an Land geschwemmt wurden. Alle träumten davon, zu Weihnachten ein paar Jeans geschenkt zu bekommen. Einige Monate lang beneidete mich die ganze Schule, weil ich als erster eine elektronische Armbanduhr besaß – ein klobiges, primitives Teil, das nur nach festem Drücken der Tasten die Zeit anzeigte. Bis auf den heutigen Tag kann ich mich für unnütze technische Kinkerlitzchen begeistern, jederzeit bereit, mein Geld für Gummilatschen mit Lämpchen oder eine sprechende Zahnbürste auszugeben.
Wir veranstalteten Partys, auf denen es cool war, richtigen Wermut zu trinken. Jedes neue Album von Pink Floyd – mit einem Beschaffungswert von mehreren Monatseinkommen – wurde begrüßt, als handelte es sich dabei um einen authentischen Überrest des Heiligen Kreuzes. Wir lernten Englisch, indem wir die Texte auf der Plattenhülle übersetzten, und glaubten, dasselbe Unbehagen zu empfinden, das unsere Popidole umtrieb. Erst später verstand ich, daß unsere westlichen Zeitgenossen dabei etwas ganz anderes im Sinn hatten: Sie hatten die Schnauze voll von der Konsumgesellschaft, während wir sehnsüchtigst dessen banalste Manifestationen vergötterten. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an meinen sechzehnten Geburtstag; meine Eltern verschwanden netterweise fürs Wochenende und überließen mir die Hausschlüssel; ein Raum war abgedunkelt, im Kerzenlicht tanzten Pärchen engumschlungen zu den Klängen von »Dark Side of the Moon«; ich saß auf dem Sofa, legte zaghaft einen Arm um Beata, eine Blondine, auf die ich schon seit Monaten scharf war, hielt ein Glas Wermut in der freien Hand und dachte zufrieden: »Superschick. Das ist ja wie im Westen!«
Noch subversiver als Wermut und Pink Floyd war, daß die Polen als einzige Ostblockstaatler in den Westen reisen durften. Die Schwierigkeit war nur, die nötigen Devisen zu beschaffen. Jede polnische Familie konnte einmal jährlich eine Dollarzuweisung beantragen, zu einem Wechselkurs, der zwar über dem rein fiktiven offiziellen Wert, aber immerhin unter dem Schwarzmarktpreis lag. Jeden Frühling aufs neue warteten wir gespannt, was uns die Sommerferien bringen würden: einen Monat entweder in sonniger Ferne oder im durchnäßten Zelt an irgendeinem pommerschen See. Es war immer wieder eine Zeit des Bangens. Hatte vielleicht jemand meinen Vater angeschwärzt, weil er politische Witze erzählt hatte? Vielleicht gingen »ihnen« die Dollars aus und würden die Zuweisungen drastisch gekürzt? Oder vielleicht wollten »sie« meine Eltern bestrafen, weil sie an den letzten Wahlen nicht teilgenommen hatten? Die Behörden verbreiteten mit Absicht das Gerücht, Willfährigkeit in politischen Dingen stehe in engem Zusammenhang mit der Zuteilung von Devisen, und dies war wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, daß die meisten gebildeten Familien bei den offiziellen Parteiritualen mitmachten.
Die Tage im Frühling, an denen jeweils die briefliche Bestätigung der Zuweisung eintraf, waren die glücklichsten meiner Kindheit. Meine Eltern und ich holten dann den Atlas und die Landkarten hervor, um jeden einzelnen Tag der Sommerferien aufs genaueste zu planen. Zu jener Zeit galt jedes beliebige Land der nichtkommunistischen Welt für uns schon als »der Westen«. Wir entschieden uns in der Regel für die Türkei oder Griechenland. Diese Reiseziele waren nicht ohne Hintergedanken gewählt, denn wir konnten sie leicht mit dem Auto erreichen, indem wir durch die Sowjetunion, Rumänien und Bulgarien fuhren und billiges sozialistisches Benzin tankten. Noch wichtiger war jedoch, daß wir in beiden Ländern nicht nur mit unseren Devisen auskommen, sondern auch ein bißchen Handel treiben konnten, um am Ende mit einem Teil der kostbaren Dollars zurückzukehren.
Vor der Abreise bemühte sich die ganze Familie, ausstehende Gegenleistungen für frühere Gefälligkeiten einzutreiben und so geeignete Handelsware zu sammeln. Meinen Eltern war das peinlich, aber in mir erwachte der wahre Handelsinstinkt. Wenn der Urlaub nahte, häuften sich in unserer Küche die verschiedensten Güter an. Es hatte sich herumgesprochen, daß in der Türkei rege Nachfrage nach polnischen Elektrogeräten wie Mixern, Bügeleisen und Staubsaugern bestand. Außerdem kaufte ich einige Sachen aus geschliffenem Kristall: Aschenbecher, Vasen, Zuckerdosen. Dem Zoll machte man weis, daß die ersteren zu unserer Campingausrüstung gehörten, die letzteren wurden als Geschenke für alte türkische Freunde deklariert. (Wie bei so vielen Dingen wurden unter dem Sozialismus die normalen Zollbestimmungen in ihr Gegenteil verkehrt: Die Zöllner versuchten zu verhindern, daß etwas aus dem Land geschmuggelt wurde.) Noch gewinnbringender waren Güter, die man in der Sowjetunion absetzen konnte: Kaugummi, Nagellack, Parfüm, Jeans, Bettwäsche und, aus unerfindlichen Gründen, Perücken. Ebenso wie wir waren die Sowjets ganz erpicht auf alles, was nach Luxus roch, nur stand Giereks Polen aus ihrer Sicht schon mit einem Bein im Paradies. Andererseits lagerten in den sowjetischen Geschäften Bedarfsartikel, die in der Türkei gefragt waren oder auch bei uns Polen fehlten: Kameras, Autozubehör und vor allem ganz schlichte Heimwerkerutensilien. Man konnte zudem versuchen, Rubel aus der Sowjetunion zu schmuggeln (ein heimtückisches Verbrechen, das mit der Beschlagnahmung der involvierten Summe sowie des benutzten Vehikels – des Familienwagens – geahndet wurde), um sie später gegen bulgarische Lewa zu tauschen, die bei den Schaffellhändlern in der Türkei hoch im Kurs standen. Um unsere Reisekosten möglichst gering zu halten, nahmen wir auch kiloweise Wurst, Packungen mit passierten Tomaten, Suppendosen und Gemüse mit; dazu die Grundausstattung: Zelte, Matratzen, Gaskocher und Ersatzteile für den Wagen. Mein Vater hatte meist schon an mehreren Wochenenden geprobt, um schließlich alles im Kofferraum, auf dem Dach und auf dem Rücksitz unseres Polski Fiat 125 verstauen zu können. Ich durfte es mir jedesmal zwischen den Zeltstangen und Reservestoßdämpfern auf dem Rücksitz gemütlich machen.
Der Geselligkeit halber, aber auch wegen der gegenseitigen Hilfe bei den unvermeidlichen Pannen, reisten wir immer zusammen mit zwei oder drei anderen Familien, deren Autos ebenfalls durch eine schwere Last tief in die Federung gedrückt wurden. Unangenehm wurde es gleich an der polnisch-sowjetischen Grenze bei Medyka. Nach einer kursorischen Kontrolle durch die polnischen Zöllner – die höchstens mal eine Kristallschale oder einen Staubsauger für den Eigengebrauch konfiszierten – landeten die Wagen in einem von Wachtürmen und Stacheldraht umgrenzten Niemandsland. Es war nicht ganz die »vereinigende Grenze«, über die ich in Schulbüchern und Zeitungen so viel gelesen hatte. Die Wartezeit betrug jedesmal mehrere Stunden, wenn nicht gar Tage. Häufig wurde der Grenzübergang ohne Vorwarnung geschlossen; dann ging gar nichts mehr, außer Fluchen und Abwarten. Es gab keine Läden, keine Cafés, keine Toiletten – nur eine Einöde mit hier und da ein paar Gräben und Büschen. Wir schliefen im Wagen und ließen wegen der Heizung den Motor laufen.
Endlich auf der sowjetischen Seite angekommen, begann der Zirkus erst recht. Offiziell waren wir zwar internationalistische Brüder und Schwestern, doch der sowjetische Zoll und die Einwanderungsbehörde behandelten uns mit größtem Mißtrauen. Das Verfahren war immer das gleiche. Zuerst wurden uns die Pässe abgenommen, die dann für mehrere Stunden im Büro der Einwanderungsbehörde verschwanden. Anschließend mußte jedes Fahrzeug auf einer Hebebühne untersucht werden; jemand klopfte dazu mit einem Hammer den Wagenboden ab. Ein anderer Grenzsoldat prüfte mit einem langen Stab den Benzintank. Wir mußten unser gesamtes Gepäck ausladen, damit die Zöllner feststellen konnten, ob wir im Wageninnern nicht einen Spion versteckt hielten. Oft verlangten sie irgendwelche kleinen Geschenke: