Das polnische Haus. Radosław Sikorski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Radosław Sikorski
Издательство: Bookwire
Серия: eva digital
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783863935016
Скачать книгу
Es sind schon viele Menschen von weither gekommen. Sie hatten von unserem neuen Papst gehört, aber noch nie sein Gesicht gesehen, weil die Zeitungen und das Fernsehen es nicht zeigen. Wir konnten ihnen nichts geben, denn wir hatten selbst keine Bilder. Jetzt haben wir welche. Viele Menschen werden noch lange für euch beten.«

      »Keine Ursache, ich habe nur meine Pflicht getan«, murmelte ich, und Jacek und ich schlichen gerührt, aber etwas beschämt zur Tür.

      »Panowie!« Ihre Stimme klang plötzlich laut und deutlich und schreckte uns auf, als wir gerade zur Tür hinausgehen wollten. Wir standen sofort stramm; es war das erste Mal, daß jemand uns als »Herren« anredete. »Wann werden Sie wieder nach Lwów kommen?« fragte sie.

      »Nächstes Jahr wahrscheinlich, wenn wir wieder in die Türkei fahren«, erwiderte ich.

      »Nein, ich meinte: in Uniform, meine Herren. Wann werden Sie in Uniform nach Lwów kommen? Wir wünschen uns nichts lieber.«

      Wir alle betrachteten Lwów mittlerweile als sowjetische Stadt und nahmen an, daß sich daran so bald nichts ändern würde. Und doch erfuhr ich durch Lwów einen tiefen Respekt für die polnische Vergangenheit. Die Erfahrung einer verbotenen Wahrheit, die dort mit Händen zu greifen war, immunisierte mich gegen die offiziellen Lügen. Als ich später im Exil über die Massaker las, die dort stattgefunden hatten, nachdem die Rote Armee 1939 in die Stadt einzogen war, mußte ich an den alten Mann denken, der mich um polnische Briefmarken gebeten hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, was er alles durchgemacht haben mußte, daß er sich sogar nach dem kommunistischen Polen sehnen konnte.

      Unseren nächsten Zwischenstopp nach Lwów machten wir normalerweise im Süden Bulgariens auf einem Campingplatz namens Nestinarka, der am Schwarzen Meer gelegen war. Unser Sprungbrett für die Weiterreise in die Türkei verfügte über ein Gebäude mit furchtbar verschmutzten öffentlichen Toiletten, das wir das »Weiße Haus« nannten, doch dafür entschädigte die gute Lage direkt an einem goldgelben, kilometerlangen Strand. Die meisten Campingbesucher waren Touristen aus anderen kommunistischen Ländern: Ostdeutsche, Ungarn und Tschechoslowaken – die alle auf uns Polen neidisch waren, da wir als einzige unsere Reise über die Grenzen der Bruderstaaten hinaus fortsetzen durften. An beiden Enden des Campingstrands befanden sich Felsen aus Vulkangestein, die jeweils einen kleinen Nacktbadestrand umgrenzten. Dort tummelten sich zwar auch ein paar ortsansässige Gigolos auf der Suche nach ausländischer Kundschaft, aber die meisten FKKler waren wohl deutsche Familien – von schrumpeligen Großmüttern bis zu dicklichen Enkeltöchtern –, die sich unbekümmert gaben, ob beim Sonnen, Windsurfen oder Schnorcheln. Die Polen waren dagegen ziemlich verklemmt. Allerhöchstens entblößten die Frauen ihre Brust, um sie jedoch sofort wieder einzupakken, wenn sie die Stimmen von Teenagern vernahmen, die in ihrer eigenen Sprache Kommentare abgaben.

      Manchmal machte sich die politische Wirklichkeit Bulgariens auch in unserem Urlaub bemerkbar. Auf einem Streifzug mit Freunden wagte ich mich einmal weiter vor als sonst, bis der Strand völlig menschenleer war. Hoch oben auf einem Felsvorsprung, der weit ins Meer hineinragte, entdeckten wir ein faszinierendes Bauwerk. Es war schon fast dunkel, als wir einen steilen Pfad hinaufkletterten, wobei wir uns an kleinen Steinbrocken hochhangeln mußten. Das Gebäude war von unbestimmtem Alter und bestand aus demselben Felsmaterial, auf dem es errichtet worden war. Eine schwere Holztür war mit einer rostigen Eisenkette verschlossen, doch wir rukkelten solange daran herum, bis die Kette schließlich weit genug nachgab und wir durch die Öffnung hindurchschlüpfen konnten. Drinnen war es stockfinster; nur durch zwei Schlitze direkt unter der Decke drang ein wenig Licht. Bevor unsere Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, stolperte ich über ein großes Stück Holz. Plötzlich wurde ein Goldschimmer sichtbar. Große Kreise, Ovale und Quadrate leuchteten an den Wänden, am Boden lagen Goldbarren. Allmählich konnten wir sehen, wie rosa Gesichter sich in den vergoldeten Rahmen abzeichneten. »Es ist eine Kirche«, flüsterte einer von uns. Auf einmal bekamen wir es mit der Angst. Barfuß und in Badehosen blieben wir wie angewurzelt stehen und staunten beim Anblick der Dinge um uns herum. Die Kirche war entweiht worden. Das Stück Holz, über das ich gestolpert war, entpuppte sich als eine kaputte Bank, und die Goldbarren waren in Wirklichkeit Reste eines Altars, die zusammen mit anderen Trümmern des Kircheninventars über den Boden verstreut lagen. Die meisten Gemälde waren zerrissen oder – wahrscheinlich mit Bajonetts – zerschnitten worden. Das riesige Deckengemälde, das Christus mit Heiligenschein und Schwert darstellte, wies eine Reihe von Einschußlöchern auf, die quer über das byzantinische Gesicht verlief. Als wir uns vom ersten Schrecken erholt hatten, sagte einer, wir sollten gucken, ob wir Ikonen finden könnten.

      Einen Moment lang stellten wir uns vor, wir wären Tom Sawyer und Huckleberry Finn und würden mit reichen Schätzen zurückkehren. Aber die Begeisterung hielt sich in Grenzen, der Anblick der Zerstörungen war eher furchteinflößend. Wir schlichen davon und machtenuns mit einem traurigen Gefühl auf den Rückweg. Es war spät und dunkel geworden, als wir den Campingplatz erreichten, wo unsere wütenden Eltern längst auf uns warteten. Wir versuchten, sie zu beschwichtigen, indem wir von unserer Entdeckung erzählten, und forderten sie auf, am nächsten Tag mit uns zur Kirche zu gehen. Vielleicht handelte es sich bei den Gemälden um verlorengeglaubte Meisterwerke, deren Wiederentdeckung uns berühmt machen würde. Die Erwachsenen hatten allerdings andere Ansichten. Wir erhielten eine deftige Standpauke, und der Strand hinter den Felsen wurde für die restliche Dauer unseres Aufenthalts zum Sperrgebiet erklärt.

      In Istanbul schlugen wir unsere Zelte auf einem weiten Feld am Fuß der römischen Stadtmauer auf – wie eine Belagerungsarmee. Die Campingplatzverwaltung hatte ein großes Schild in polnischer Sprache aufgestellt, das jeden Handel auf dem Gelände untersagte. Aber niemand schien sich darum zu kümmern. Ständig strömten Besucher vorbei, die unsere Ware zu sehen wünschten. Mittlerweile waren wir jedoch geschäftstüchtig genug, um zu wissen, daß es besser war, gleich in den Basar zu gehen, als sich mit den kleinen Zwischenhändlern abzugeben.

      Wir schauten uns die Sehenswürdigkeiten wie die Hagia Sophia, die Blaue Moschee und die unterirdische römische Zisterne an, doch am meisten beeindruckte mich die NATO-Basis in einem der Vororte Istanbuls. Wir hatten eine falsche Abzweigung genommen und gerieten versehentlich auf ein Kasernengelände. Plötzlich fuhren wir an langen Panzerkolonnen vorbei. Wir hielten an und fürchteten schon, daß man uns verhaften oder zumindest vernehmen würde. Statt dessen wurden wir von einem schwarzen Soldaten – dem ersten Schwarzen, den ich überhaupt mit eigenen Augen sah – mit einem breiten Lächeln begrüßt. Dadurch ermuntert, stieg ich aus dem Wagen und bestand darauf, daß er sich mit mir vor einem der Panzer fotografieren ließ. Die Erwachsenen fragten sich nur, wie der Westen bei solchen Sicherheitsvorkehrungen den Kalten Krieg zu gewinnen gedachte.

      Der Höhepunkt der Reise war der Besuch im Basar. Hier entschied sich, ob wir einen Gewinn von ein paar Hundert Dollar einfahren, nur die Reisekosten ausgleichen oder einige Hunderter draufzahlen würden – entweder konnten wir ein Polster für den nächsten Urlaub anlegen, oder meine Eltern müßten ein ganzes Jahr sparen, um den Verlust wieder wettzumachen. Unser armseliger Vorrat war alles, was wir hatten, also ließen wir ihn keine Sekunde aus den Augen. Nicht nur unsere Kristallschalen, Elektrogeräte und Brieftaschen hätten langen Fingern zum Opfer fallen können, sondern freundliche Händler warnten meine Eltern, daß mancherorts in Kleinasien immer noch große Nachfrage nach hellhäutigen Jungen wie mir bestand. »Nehmen Sie ihn lieber die ganze Zeit an die Hand«, empfahlen sie.

      Die Geschäfte, die mit polnischer Ware handelten, waren leicht zu erkennen, da an ihren Fenstern gefälschte Empfehlungsschreiben von berühmten polnischen Fußballspielern klebten. Das waren noch Zeiten, als unsere Nationalelf ihre großen Triumphe feierte. Die Regierung stellte den Spielern damals großzügige Siegesprämien in Aussicht – in ganz Polen machte das Gerücht die Runde, daß die Spieler für jeden Sieg einen Fiat bekämen. Der Regierung kam es wohl nicht ungelegen, wenn die Leute sich so sehr mit Fußball befaßten, daß sie darüber die Lebensmittelknappheit und die Politik vergessen würden. Womöglich dank dieses kapitalistischen Ansatzes war die polnische Nationalmannschaft während der siebziger Jahre sehr erfolgreich; sie gehörte zu den besten Teams bei der Weltmeisterschaft und gewann Medaillen bei den Olympischen Spielen. Immer, wenn wir Bekanntschaft mit Türken machten, wurden deshalb erst einmal die Namen der polnischen Fußballer abgespult:

      »Lubánski