Die Bäuerin folgte mir ins Haus und nahm das Vorhängeschloß von einer Flügeltür, in die jemand die Nummer 7 eingeritzt hatte. Wir betraten das frühere Wohnzimmer. In der Mitte stand eine große Holzkiste mit faulem Obst. Ein aus der Wand gerissener Lichtschalter baumelte an den Drähten. In einer Ecke lag ein hüfthoher Trümmerhaufen. Kachelscherben deuteten die Stelle an, wo einmal ein Ofen gestanden hatte. Der Raum war stockfinster. Die Verandatür war zugemauert worden.
Die Bäuerin führte mich durch die übrigen Räume. Keine einzige Tür verfügte über die Originalklinken. Messing war durch Aluminium ersetzt worden, oder man hatte Löcher in die Türen gebohrt, um sie mit einfachem Draht zu verschließen. Überall dasselbe: zertrümmerte Öfen, herausgerissene Dielen, Spinnweben in den Ecken, abblätternde Farbe, Hühner.
»Sehen Sie doch, was die gemacht haben!« Sie zeigte aufgeregt auf ein großes Loch in der Decke des Eßzimmers. Ein wuchtiger, völlig verrotteter Balken schwebte bedrohlich über unseren Köpfen. Die Hausbesetzer, die oben gelebt hatten, seien daran schuld, meinte sie empört. Wasser drang durch die Ritzen und zerfraß das Gebälk. Ohne die Stützen im Eßzimmer wären das Dach und das ganze obere Stockwerk längst eingestürzt.
Die Außenmauern waren ebenfalls beschädigt. Ein Riß in einer der Seitenmauern, der an manchen Stellen armdick war, zog sich von der Dachspitze bis zur Mitte des Erdgeschosses. Die Linde neben dem Haus war aller Wahrscheinlichkeit nach der Übeltäter. Ihre Wurzeln waren unter die Fundamente gewachsen und hatten die Mauer angehoben. Die komplette Mauer müßte abgerissen und Stein für Stein wieder aufgebaut werden.
Sogar der Keller – ein Labyrinth aus kühlen Kammern mit gemauerten Wänden und gewölbten Decken – drohte zusammenzubrechen. Manche Schlußsteine hatten sich gelokkert. Entfernte man aber nur einen einzigen Stein, könnte die ganze Decke oder gar ein Teil des Hauses einstürzen. Und auch wenn sich die Gewölbe reparieren ließen, die Kellerräume waren tief und der Fluß sehr nahe. Nach dem Einbau einer Zentralheizung würden die Wände Wasser ziehen und könnte die Nässe zur Gefahr werden. Die Sicherung der Fundamente würde viel Zeit und Geld in Anspruch nehmen.
Das Grundstück machte einen nicht weniger jämmerlichen Eindruck. Vom Pförtnerhaus, einem hübschen kleinen Gebäude, in dem noch bis 1982 Leute gewohnt hatten, war nur noch das Gemäuer übrig. Alle Fenster- und Türrahmen waren herausgerissen worden. Ein rostiges Stahlseil war um die Dachbalken geknüpft – offenbar hatte jemand versucht, der Ruine den Rest zu geben.
Das Rauschen des Wassers wurde lauter, als ich mich dem Fluß näherte. Am gegenüberliegenden Ufer ragte ein Klinkerbau hoch – die alte Mühle. Als ich nähertrat, sah ich, wie ein Junge von einem Pfeiler kopfüber in den Wasserfall sprang. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf und ließ sich stromabwärts in seichteres Wasser treiben. Die Mühle stand gerade noch; die Dachbalken im neugotischen Stil bogen sich schon deutlich durch. Wie ich später erfuhr, wurde sie von einer Karpfenzucht als Lagerhaus genutzt. An den Pfeilern im Fluß waren früher Turbinen befestigt. Ein paar riesige Eisenräder standen, mit einer Rostschicht und zahlreichen Spinnweben bedeckt, an die Mühle gelehnt, stumme Zeugen der nicht unbeachtlichen Erfindungsgabe früherer Zeiten.
Direkt gegenüber vom Eingangsportal, auf der anderen Seite der Straße, die uns zum Haus geführt hatte, wuchs ein Fichtenwäldchen an der Stelle des Friedhofs. Alte Mauerreste deuteten darauf hin, daß er in der Vergangenheit mehrmals erweitert worden sein mußte, um den aufeinanderfolgenden Generationen der Besitzer Chobielins Platz zu bieten. Vom Eisengeländer, das ihn einmal eingegrenzt hatte, war keine Spur mehr übrig. Außerdem hatten die frömmlerischen Bauern die Kapelle zerstört und die Gräber geplündert. Was blieb, waren Grundgerippe aus Granit und Vertiefungen im sandigen Boden. Die Grabsteine – die aus schwarzem Marmor gehauen waren, wie wir später erfuhren – waren zu Wiederverwendungszwecken abtransportiert worden. Man mochte gar nicht wissen, was mit den menschlichen Überresten geschehen war. War es überhaupt eine so gute Idee, sich in der Nähe von Grabschändern niederzulassen?
»Meine Güte, war es früher nicht schön hier?« Die Bäuerin seufzte, und ihre Augen wurden glasig, als sie an die alten Zeiten zurückdachte. »Hier standen einmal zwei Kastanien, eine auf dieser und eine auf der anderen Seite der Treppe.« Sie zeigte uns die beiden Kuhlen neben dem Portal. Im Schatten dieser Bäume fuhren einst die Kutschen auf einer gepflasterten Rampe vor. »Sie haben sie aber gefällt, weil sie Brennholz brauchten.« Das »sie«, womit die Hausbesetzer gemeint waren, sprach sie voller Verachtung aus. Im Garten, so erzählte sie, hatte es seltene Bäume gegeben, viel Rasen, Werkstätten, ein Kutschenhaus und auch ein großes Loch im Boden, das mit Granit ausgelegt war – der Eiskeller.
»Ich nehme an, Sie wollen es abreißen und die Steine anderweitig nutzen?« Ihr verschmitzter Blick verriet mir, daß es dies war, was sie eigentlich wissen wollte. »Wenn Sie das vorhaben sollten ... wir haben nichts dagegen.«
»Ich hatte eher vor, es wiederaufzubauen.«
Sie schien überrascht. »Das ist auch gut. Wenn Sie uns eine Ersatzwohnung geben, aber eine schöne gefälligst, in einem Hochhaus und nicht in irgendeiner Bruchbude, dann sind wir hier im Nu ausgezogen.« Die Fronten waren klar. Schon bald sollte ich die Entdeckung machen, daß das polnische Gesetz eine Zwangsräumung so gut wie ausschloß.
Frau Erlich war im Grunde nur vernünftig. Ein nüchtern denkender Mensch würde sagen, daß Chobielin ein hoffnungsloser Fall war, den man lieber heute als morgen dem Erdboden gleichmachen sollte, bevor noch irgendein Unglück geschah. Gab es überhaupt etwas zu retten? Jeder Immobilienmakler hätte das Unternehmen lächerlich gefunden. Es wäre einfacher, zeitsparender und billiger gewesen, ein ähnliches Gebäude im Neubau zu errichten.
Doch für mich war die Instandsetzung von Chobielin viel mehr als eine Investition in eine Immobilie. Manchmal kamen mir Zweifel, und ich betrachtete es als eine fixe Idee – als meine eigene Art und Weise, gegen Windmühlen zu kämpfen. Doch dann hoffte ich, daß es mein persönlicher Beitrag zum Wiederaufbau Polens sein würde und ein letztes Gefecht gegen die Kommunisten. So wie ich sie früher mit einem Teleobjektiv, einem Computer und ein oder zwei Garben aus einem Maschinengewehr bekriegt hatte, würde ich ihrem Erbe von nun an mit Ziegelsteinen, Mörtel und Hochglanzlack zu Leibe rücken. Ich wollte wenigstens ein kleines Fleckchen polnischen Bodens von dem Schmutz säubern, den die Kommunisten im buchstäblichen und übertragenen Sinne hinterlassen hatten. Hatte ich mich früher nicht zwingen lassen, ihre glorreiche Zukunft mitaufzubauen, so wollte ich nun ein Stückchen polnischer Vergangenheit erhalten. Meine größte Befriedigung wäre, so sagte ich mir, wenn in einigen Jahren meine Gäste nach Chobielin kämen, sich umsähen und glauben würden, der Kommunismus hätte diesen einsamen Ort durch eine seltsame Fügung verschont.
* Aus: Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen, übersetzt von Walter Panitz, Berlin (O.), Aufbau Verlag, 1955.
KINDHEIT UNTER DEM KOMMUNISMUS
WEIL DER KOMMUNISMUS versuchte, die Vergangenheit abzuschaffen, entwickelte ich eine Leidenschaft für alte Gegenstände. Und gerade weil man mir beigebracht hatte, daß die Gutshäuser ein Relikt aus feudalistischen Zeiten darstellten, war ich so erpicht darauf, irgendwann selbst in einem dwór zu wohnen. Wie jede Art von Weltreligion verordnete der Kommunismus nicht nur eine neue Politik, eine neue Moral und eine neue Sprache, sondern auch eine neue Ästhetik, nicht zuletzt in der Architektur. Die Grundschule,