Dank dieser Umstände stehen die Blocks immer noch, während zahllose andere in der ehemalig kommunistischen Welt von Tag zu Tag weiter zerfallen oder beim geringsten Anzeichen eines Erdbebens oder einer Gasexplosion in sich zusammenbrechen. Ja, man kann die jeweilige Lebendigkeit des kommunistischen Glaubens an den Gebäuden ablesen, die das Regime über die Jahre errichten ließ: Mussoliniähnlicher Heroismus in den glatten Fassaden der fünfziger Jahre, nüchterne Ziegelsteinbauten in den Sechzigern, schäbige Plattenbauten in den Siebzigern und rein gar nichts in den Achtzigern.
Ein Rebell wurde ich jedoch nicht einfach nur aufgrund der Häßlichkeit, die uns umgab, sondern wegen der kruden Methoden der Gehirnwäsche, die an uns ausprobiert wurden. Mein erstes politisches Erlebnis hatte ich im Alter von fünf Jahren; es war meine erste Maidemonstration. Eine riesige Menschenmasse hatte sich in der Hauptstraße unserer Stadt, der Allee des 1. Mai, gesammelt. Um alles besser sehen zu können, kletterte ich auf die Schultern meines Vaters und dann auf einen Baum. Unter mir sah ich ein Meer von lächelnden Zuschauern. Es war ein Festumzug; es machte Spaß. Orchester spielten Marschmusik, Lieder erschallten aus Lautsprechern, Festwagen fuhren vorbei, und überall gab es Blumen. Ich bekam ein paar Lutscher, Zuckerwatte und ein rotes Fähnchen zum Schwenken. Am Vormittag hatte ich im Fernsehen Bilder von der Maiparade in Moskau gesehen, komplett mit Panzern und Raketen, die über den Roten Platz rollten. Per Direktschaltung wurde auch über die jeweiligen Paraden in anderen befreundeten Ländern berichtet, und man erzählte uns, daß die Arbeiter im kapitalistischen Ausland zu eingeschüchtert seien, an Maikundgebungen teilzunehmen. Dazu wurden Bilder von der kapitalistischen Polizei gezeigt, die unter Einsatz von Tränengas Demonstrationen auflöste.
Die Politik fehlte auch in der Grundschule nicht. Die Indoktrination begann spätestens im Alter von sechs Jahren. Ein Schulbuch aus der damaligen Zeit lehrte uns die sozialistische Solidarität mit den Unterdrückten in der Dritten Welt. Im Rückblick mutet der darin abgedruckte Reim ziemlich rassistisch an:
In Afrika lebt ein Negerlein,
Ein Genosse mit schwarzer Haut.
Fleißig lernt er im Sonnenschein,
Die Lektion liest er deutlich und laut.
Doch wenn er aus der Schule kommt,
Denkt er nur ans Spielen und Tollen,
Da schimpft mit ihm die Mutter prompt,
Und Bambo fängt an zu schmollen.
Komm, sagt sie, dein Brei wird kalt,
Doch da ist Bambo schon längst im Wald.
Später spielte ich oft die kommunistische Version von Trivial Pursuit. Das Buch mit den Quizfragen steckte in einer glitzernden bunten Schachtel. Gefragt wurde bei dem Spiel nach den Kenntnissen, die man über die sozialistischen Bruderländer und ihre Produktionszahlen hatte. Eine der Aufgaben bestand darin, zu einem Land, zum Beispiel Rumänien, oder auch zu dessen Flagge das passende Staatsoberhaupt, in diesem Falle Nicolae Ceaușescu, zu finden. Bei anderen Fragen ging es darum, die Erfolge der sowjetischen Raumfahrt aufzuzählen oder das Volumen der polnischen Stahlproduktion zu erraten.
Mein Lieblingscomic war Die Abenteuer des Zickleins Matolek, die Geschichte von einem kleinen Ziegenbock, der auszog, die Stadt Pacanów zu suchen, im festen Glauben, dort Ziegenhufe erstehen zu können. Der klassische Kindercomic aus der Vorkriegszeit bildete später die Vorlage für einen Zeichentrickfilm. Matolek heißt buchstäblich »kleiner Trottel«, und das Zicklein mit dem naiven Gesicht und den kurzen Hosen ist gerade deshalb so liebenswürdig, weil es sich so tolpatschig anstellt. Erst viel später wurde mir bewußt, wie sehr die Geschichte von den Zensoren den neuen Zeiten angepaßt worden war. Nachdem sich Matolek während seiner abenteuerlichen Reise plötzlich auf dem Mond wiederfindet, fliegt er auf dem kometenartigen Schweif eines Sterns wieder zur Erde zurück. In der Vorkriegsfassung des Comics handelt es sich dabei um einen sechszackigen Stern – den herkömmlichen Weihnachtsstern. In der Fassung, die ich zu lesen bekam, hatte der Stern eine Zacke eingebüßt und glich nun dem Symbol der russischen Revolution.
Auf seinem Weg zurück zur Erde schaute der ursprüngliche Matolek hinunter auf das Zentrum von Warschau mit dem alten Königsschloß, dem Denkmal für König Sigismund III. und einer Kirchturmspitze. Meine neue Fassung zeigt von der Warschauer Skyline lediglich den nach Josef Stalin benannten Kulturpalast, einen gräßlichen Wolkenkratzer, den die Sowjets in den fünfziger Jahren gebaut haben. Wo die Polizisten der Vorkriegszeit in lange Regenmäntel gehüllt waren und Matolek mit dem Schlagstock drohten, weil er gegen die Verkehrsregeln verstieß, zeigten ihm jetzt freundliche Vopos den Weg. Auf seiner Fahrt durch die USA findet Matolek einen Goldschatz, den er der polnischen Botschaft mit der Bitte anvertraut, ihn »armen Kindern in Polen« zukommen zu lassen. In der neuen Fassung heißt es nicht mehr »polnische Botschaft«, sondern schlicht »die Botschaft«, während sich das klassizistische Gebäude der Vertretung in eine Kopie des Lenin-Mausoleums verwandelt. Matoleks Schenkung wird nicht mehr armen polnischen Kindern übergeben – der Sozialismus hat ja die Armut beseitigt –, sondern den »lieben« polnischen Kindern.*
Die Fernsehserie, die ich am meisten liebte, hieß Czterej Pancerni i Pies – »Vier Panzerkameraden und ein Hund«. Sie lief Sonntag morgens – damit, so vermuteten wir, die Eltern es nicht leicht hatten, ihre Kinder mit in die Messe zu zerren. Zusätzlich zur Serie gab es eine Quizsendung und eine wöchentliche Preisfrage, die sich um die Schlachten der polnischen Armee an der Front drehte. Unter den Einsendern der richtigen Antwort wurde als Hauptpreis jeweils ein echter Helm der Panzertruppen verlost, komplett mit Futter, Kopfhörer und einem Verbindungskabel, das man lässig herunterbaumeln lassen konnte. Ich weiß noch, wie ich vor Neid erblaßte, als ich eines Tages einen Jungen in meiner Nachbarschaft mit so einem Helm herumstolzieren sah. (Später erfuhr ich, daß sein Vater Oberst war und den Helm wahrscheinlich aus Armeerestbeständen »organisiert« hatte.)
Die Geschichte der Panzergrenadiere begann mit Janek, dem Jüngsten des Quartetts, der im Jahre 1943 in Sibirien lebte. Weil er oft auf Bärenjagd ging, war er ein Superschütze. Eines Tages las er in seiner entlegenen Hütte eine Zeitung: In der Sowjetunion wurde ein polnisches Heer gebildet. Ohne zu zögern, meldet er sich als Freiwilliger, und nach vielen Abenteuern nimmt er zusammen mit seinen sympathischen sowjetischen Kameraden an der Befreiung Polens teil. Erst viele Jahre später, als ich schon in London war und die Bücher polnischer Emigranten las, fragte ich mich, was Janek überhaupt nach Sibirien verschlagen hatte. Die Fernsehserie verschwieg, daß Janeks Familie, zusammen mit etwa einer Million anderer Polen, nach Osten deportiert wurde, als 1939 die Sowjetarmee und die Wehrmacht Polen besetzten und unter sich aufteilten.
In den Polnischstunden lasen wir Kurzgeschichten und schrieben Aufsätze über Lenin: Lenin als Musterschüler, Lenin der Revolutionsführer, Lenin während seiner Verbannung nach Ostsibirien, von wo er Briefe an die Mutter schrieb und ein Tintenfäßchen aus Brot verwendete. Bis in ein gewisses Alter hinein muß die Indoktrination offensichtlich funktioniert haben, denn mit elf Jahren schrieb ich folgende Zeilen zum Thema »Beschreibe Lenin«:
Wladimir Iljitsch wurde 1870 geboren und stammte aus proletarischen Verhältnissen. Nach dem Abitur studierte er an der Kaiserlichen Universität von Kasan. Von 1917 bis 1918 leitete er die Große Oktoberrevolution. Lenin war eine zurückhaltende, bescheidene Person. Oft lief er nachdenklich herum. Er ist Autor vieler Bücher über Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen. Er war ein begnadeter Anführer der Revolution.