Siedend heiß fiel ihr das Kärtchen ein, das Walter Bernstein ihr im Mai gegeben hatte und auf dem eine Handynummer vermerkt war, über die er für sie erreichbar zu sein versprochen hatte. Hastig kehrte sie in ihr Büro zurück und riss die unterste Schreibtischschublade auf. Sie enthielt eine Schachtel mit unzähligen Visitenkarten, die sie in den vergangenen Jahren gesammelt hatte. Walter Bernsteins Kärtchen hatte sie irgendwo dazwischen versteckt. Fahrig schüttete sie den Inhalt der Box auf dem Schreibtisch aus und wühlte darin, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Mit fliegenden Fingern wählte sie die Nummer auf der kleinen, rechteckigen Karte.
Als nur eine anonyme Mailbox ansprang, verzog sie verärgert die Lippen und wartete auf den Signalton. »Hallo, Herr Bernstein? Ich hoffe, diese Nummer ist immer noch gültig. Ich hatte eben Besuch von einem gewissen Peter Schneider, der behauptet hat, beim BKA zu arbeiten und von Ihnen geschickt worden zu sein. Und jetzt habe ich eine E-Mail erhalten mit einem Foto vom Freizeitpark. Ich ... ähm, also ich möchte gerne wissen, was es damit auf sich hat. Bitte rufen Sie mich zurück!« Sie schluckte. »Ach ja, hier ist Janna Berg. Entschuldigen Sie, das hätte ich vielleicht zuerst sagen müssen. Also ... Bitte rufen Sie mich an.« Etwas zittrig unterbrach sie die Verbindung und starrte dann minutenlang erwartungsvoll auf ihr Handy, doch nichts geschah.
Schließlich gab sie es auf, warf einen erneuten Blick auf die Uhr und hastete die Treppe hinab. Rasch überprüfte sie, ob alle Fenster und Türen im Erdgeschoss verschlossen waren, dann schnappte sie sich Handtasche und Schlüsselbund und rannte zu ihrem Auto.
2
Freizeitpark Rheinbach
Parkplatz
Donnerstag, 2. August, 11:43 Uhr
Unsicher stieg Janna aus ihrem dunkelblauen Golf V aus und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Hoffentlich beging sie nicht einen riesigen Fehler. Wer wusste schon, ob dieser Peter Schneider wirklich beim BKA angestellt war und woher er das Foto hatte. Lediglich die Tatsache, dass die Bild-E-Mail über den Institutsaccount versendet worden war, deutete darauf hin, dass tatsächlich der Geheimdienst versuchte, heimlich mit ihr Kontakt aufzunehmen. Doch warum wohl, und aus welchem Grund musste es derart kompliziert vor sich gehen?
Da sich Walter Bernstein noch immer nicht gemeldet hatte, blieb ihr nichts anderes übrig, als der vagen Anweisung auf dem Foto zu folgen. Also ging Janna langsam auf das Eingangstor des Freizeitparks zu. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, und sie ärgerte sich, dass sie keine Jacke mitgenommen hatte.
Mehrere Familien mit Kindern kamen ihr entgegen, offenbar vom schlechten Wetter vertrieben. Anderen schien die Feuchtigkeit nichts auszumachen. Gelächter und fröhliche Stimmen schallten über das Gelände.
In dem Moment, als sie durch das Tor trat, ging auf ihrem Smartphone eine weitere E-Mail ein. Sie rief sie überrascht auf und erkannte auf einem weiteren Foto das große, runde Kneipp-Becken, allerdings diesmal ohne Zeitangabe. Neugierig sah sie sich um, konnte aber unter den Besuchern niemanden erkennen, der sich verdächtig benahm. Die Parkbesucher schienen allesamt Familien zu sein, die den Ferientag bei Spiel oder Sport verbringen wollten.
Schneider hatte gesagt, sie solle sich unauffällig benehmen, also schlenderte sie betont langsam die Wege entlang, blieb hier und da bei einem Teich stehen oder sah kurz den Kindern auf den Spielplätzen zu, bis sie schließlich den Bereich vor dem Kneipp-Becken erreichte. Sie erkannte das große Gesperrt-Schild, das auch auf dem Foto zu sehen gewesen war. Das Becken wurde gerade saniert und war nicht zugänglich.
Unsicher, was sie als Nächstes tun sollte, blieb Janna stehen. Fast im gleichen Moment wurden hinter ihr Schritte laut sowie zwei Frauenstimmen, die sich angeregt unterhielten.
»Ach, weißt du, wir kommen ja kaum noch raus, seit die Kleine da ist.«
»Na, aber zu meiner Geburtstagsfeier werdet ihr doch wohl da sein, oder etwa nicht? Die Kleine könnt ihr ja mitbringen. Oh, schau mal, ist das nicht Janna? Janna, hallo, Mensch, haben wir uns lange nicht gesehen. Wie geht es dir?«
Verblüfft drehte Janna sich um, denn sie meinte, die Stimmen erkannt zu haben. Eine schlanke, schwarzhaarige Frau in einem roten Sommerkleid schoss auf sie zu und umarmte sie überschwänglich. »Ach, ist das schön, dich zu sehen, Janna!« Die Schwarzhaarige senkte ihre Stimme zu einem Raunen. »Nun freu dich gefälligst auch!« Laut sprach sie weiter. »Wie lange ist das her, zwei Jahre oder drei? Schau mal, Alexa, wie gut Janna aussieht! Sie hat sich kaum verändert.«
Die üppige Blondine in Jeans und mit Blumen bedrucktem T-Shirt, die überraschenderweise einen Kinderwagen vor sich herschob, trat ebenfalls mit einem strahlenden Lächeln auf Janna zu und umarmte sie. »Mensch, du hast recht. Janna, du siehst großartig aus. Wie geht es dir?« Im Gegensatz zu ihrem Eintausend-Watt-Lächeln stand der eindringlich-auffordernde Blick, den sie Janna zuwarf.
Janna brauchte einen Moment, um sich zu fangen, dann lächelte sie ebenfalls. »Hallo, Melanie, hallo Alexa, das ist ja eine Überraschung.« Ihre Stimme kam ihr gestelzt vor, doch sie bemühte sich, das Spiel der beiden Institutsagentinnen mitzuspielen, so gut es ging, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was hier wirklich vor sich ging. »Was macht ihr denn hier?« Ihr Blick wanderte zum Kinderwagen. »Und wer ist das?«
Alexa warf mit einer anmutigen Bewegung die langen blonden Locken in den Nacken. »Das ist meine kleine Jacqueline. Ist sie nicht zauberhaft?«
Fast hätte Janna die Agentin ungläubig angestarrt. Sie riss sich jedoch zusammen und beugte sich über den Kinderwagen. Unter einer dünnen Sommerdecke schlief tatsächlich ein vielleicht sechs Monate altes Mädchen. Unwillkürlich lächelte Janna. »Die ist ja süß. Das ist deine, Alexa?«
Die Agentin nickte enthusiastisch. »Na klar. Du weißt doch, wie sehr ich immer Kinder haben wollte. Peter und ich sind jetzt zwei Jahre verheiratet, da wurde es allmählich Zeit.«
»Peter?« Irritiert hob Janna den Kopf.
»Schluck es einfach«, zischte Melanie, die sich dicht neben sie gestellt hatte und so tat, als wäre das Baby das Interessanteste, was sie je gesehen hatte. »Die Kleine ist die Tochter meiner Schwester.« Laut sagte sie, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte: »Hey, Janna, wie wäre es, wenn wir uns demnächst mal alle treffen. Alexa und Peter wohnen jetzt wieder in der Nähe und ich habe eine Wohnung in Köln. Lass uns unbedingt mal telefonieren und ein Date ausmachen, nur wir drei Mädels, wie in alten Zeiten.«
Janna hätte sich beinahe verschluckt, nickte aber so begeistert, wie sie nur konnte. »Ja, klar, sehr gerne. Wie in alten Zeiten.«
»Gib mir mal deine Telefonnummer durch.« Alexa zückte ein Smartphone und sah Janna auffordernd an.
Obwohl sie noch immer nicht begriff, was vorging, diktierte Janna ihr die Nummer.
»Okay, Augenblick, ich rufe kurz durch, dann hast du auch meine Nummer.« Alexa wählte Jannas Nummer an, woraufhin deren Handy klingelte. »Und jetzt schicke ich dir noch rasch Melanies Nummer. Bitte sehr.« Jannas Handy gab erneut einen Signalton von sich, diesmal jedoch den für den verschlüsselten E-Mail-Account. »Kannst du ja dann nachher in Ruhe bei dir einspeichern.« Alexa lächelte vielsagend. »Jetzt müssen wir aber leider weiter. Wir hätten furchtbar gerne noch weiter mit dir gequatscht, aber wir sind verabredet. Die warten bestimmt schon auf uns.«
Melanie trat auf Janna zu und umarmte sie erneut. »Es war schön, dich wiederzusehen. Ich freue mich, dass es dir gut geht.« Diesmal klang ihre Stimme nicht so gekünstelt wie zuvor. »Lass uns in Verbindung bleiben, okay! Bis bald.« Leise setzte sie hinzu. »Check deine Mails.« Sie trat wieder zurück. »Mach’s gut, Janna.«
»Ja, ihr auch.« Janna lächelte den beiden so zu, als wären sie tatsächlich gute alte Freundinnen.
Alexa hauchte ihr links und rechts einen Luftkuss zu, schnappte sich den Kinderwagen, und gleich darauf zogen die beiden Frauen winkend und fröhlich plaudernd von dannen. Janna sah ihnen mit gemischten Gefühlen nach. Als die Agentinnen um eine Ecke verschwunden waren, ließ