Achselzuckend setzte sie das Headset wieder auf, kam aber nicht dazu, das Diktiergerät erneut einzuschalten, denn in diesem Moment ging die Türklingel. Überrascht legte sie Headset und Diktiergerät zur Seite und eilte die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Beim Anblick der hochgewachsenen, breitschultrigen Gestalt mit den dunklen Haaren, die durch das Milchglas in der Haustür nur schemenhaft zu erkennen war, blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Herzschlag verdreifachte sich, ihre Hände begannen zu zittern.
Sie musste mehrmals tief durchatmen, bevor sie es fertigbrachte, die letzten Schritte zur Tür zu gehen und sie zu öffnen. Als sie sich einem ihr vollkommen fremden Mann gegenübersah, beruhigte sich ihr Herz so plötzlich, dass es sich anfühlte, als habe es einen Schlag ausgesetzt. »Guten Tag.« Fragend musterte sie ihn.
Der Mann war annähernd einen Meter neunzig groß, athletisch gebaut, mit braunen Haaren und markanten Gesichtszügen, die durch den Dreitagebart noch eine Spur rauer wirkten.
»Kann ich Ihnen helfen? Haben Sie sich verfahren? Das kommt häufiger vor. Ich meine, dass Leute hier klingeln, weil sie sich in der Richtung geirrt haben oder weil ihr Navi sie in die falsche Straße geschickt hat.« Verlegen hielt sie inne und verfluchte ihre Nervosität, durch die sie wieder einmal, ihrer Mutter nicht unähnlich, in einen ungebremsten Redestrom verfallen war und irgendwelchen Unsinn von sich gab.
»Guten Tag, Frau Berg.« Der Mann lächelte, so als wäre ihm ihre seltsame Reaktion gar nicht aufgefallen. »Mein Name ist Schneider, Peter Schneider. Walter Bernstein schickt mich, weil ich Ihnen eine wichtige Nachricht überbringen soll.«
»Walter Bernstein?« Alarmiert hob Janna den Kopf und musterte den Fremden misstrauisch. »Können Sie sich ausweisen?«
Schneider griff in die Innentasche seiner Lederjacke und reichte ihr einen Ausweis. Janna studierte ihn eingehend und mit mulmigem Gefühl. »Sie sind vom BKA?«
»Wie Sie sicherlich wissen, arbeiten das BKA und das Institut hin und wieder zusammen.« Er lächelte ein ausgesprochen gewinnendes Lächeln.
»Gibt es irgendein Problem? Oder wurde Susanne Krause endlich gefasst?« Erschrocken biss sich Janna auf die Unterlippe. Sie durfte auf keinen Fall zu vertrauensselig sein. Wer wusste schon, was dieser Schneider wirklich hier wollte und ob Walter Bernstein ihn tatsächlich geschickt hatte.
»Nein, leider ist uns das noch nicht gelungen. Mein Hiersein hat aber sehr wohl mit dieser Angelegenheit zu tun. Ich kann mir vorstellen, dass Sie besorgt sind und vielleicht sogar Angst haben, weil ich als vollkommen Fremder plötzlich hier vor Ihrer Tür stehe. Seien Sie versichert, dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen einen Schaden zuzufügen. Herr Bernstein benötigt Ihre Hilfe, nur deshalb bin ich hier.« Er griff noch einmal in seine Jackentasche und zog ein Foto heraus. »Ich habe etwas mitgebracht, was Sie kennen dürften. Dass ich es besitze, wird Ihnen hoffentlich verdeutlichen, dass ich die Wahrheit sage, denn dieses Foto hier«, er hielt ihr das Bild hin, »stammt vom Backup-Server eines Kollegen aus dem Institut. Sein Handy wurde vor drei Monaten bei einer Explosion auf dem Rhein bei Bingen zerstört. Nur das Institut hat noch Zugriff auf seinen Online-Speicher.«
»O Gott.« Janna hatte das Gefühl, als wäre sämtliches Blut aus ihrem Körper gewichen. Sie hatte das Foto bereits erkannt. Ihr Herz pochte unangenehm hart und unstet gegen die Rippen. Als sie das Bild in die Hand nahm, zitterte ihre Hand leicht.
Das Foto zeigte eine kleine grüne Plüschmaus, die ein T in den Pfoten hielt und in einem Blumenkübel neben einer Geranie saß. Es war Tills Plüschmaus-Anhänger, an dem sein GPS-Peilsender befestigt war. Das Foto war vor gut einem Jahr entstanden, nachdem sie und Markus ihr zweites gemeinsames Abenteuer erlebt hatten. Der kleine Peilsender hatte ihr damals das Leben gerettet.
Für einen Moment starrte Janna auf das Foto, dann hob sie den Kopf. »Wollen Sie vielleicht hereinkommen und mir erklären, worum es geht?«
»Nein.« Unauffällig blickte Schneider über die Schulter, als fürchte er, beobachtet zu werden. »Ich darf mich nicht zu lange aufhalten, sondern bin nur hier, um Ihnen Ihre Anweisungen zu geben. Alles Weitere wird das Institut mit Ihnen klären. Es ist jedoch für Ihre Sicherheit von ausgesprochener Wichtigkeit, dass keiner der Agenten mit Ihnen hier gesehen wird.«
»Aha.« Besorgt blickte sich nun auch Janna um. »Werde ich beobachtet?«
»Von Institutsagenten, ja, aber aus sicherer Entfernung. Ob sich sonst noch jemand hier herumtreibt, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Deshalb bitte ich Sie, mir jetzt ganz genau zuzuhören.« Eindringlich blickte der Mann sie an. »Nehmen Sie Ihr Handy von jetzt an überallhin mit und lassen Sie es unbedingt eingeschaltet. Folgen Sie den Anweisungen, die Ihnen in verschlüsselten E-Mails übermittelt werden, sobald ich wieder weg bin. Benehmen Sie sich zu jeder Zeit vollkommen natürlich und unauffällig. Und kein Wort darüber – zu niemandem!«
»Ja ... Aber was für Anweisungen sind das denn? Was genau muss ich machen?«
»Das werden Sie in Kürze erfahren. Tut mir leid, dass ich nicht konkreter werden kann. Es ist schon ein großes Risiko, dass ich mich hier blicken lasse, aber Herr Bernstein und seine Kollegen waren der Ansicht, dass der persönliche Kontakt zu Ihnen unabdingbar ist, damit Sie sich einverstanden erklären, uns zu helfen. Sie können als ehemalige zivile Hilfskraft Ihre Mitarbeit selbstverständlich jederzeit verweigern.« Sein Blick wurde noch eindringlicher. »Aber ich möchte Sie aufrichtig bitten, das nicht zu tun.« Er trat einen Schritt zurück. »Ich muss jetzt gehen.« Er entfernte sich ein paar Schritte, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Frau Berg?«
»Ja?« Verunsichert sah sie ihn an.
»Bitte verzeihen Sie mir und meinen Kollegen die ... Unannehmlichkeiten und ... nun ja, alles, was Ihnen möglicherweise noch bevorsteht. Es ist Ihr gutes Recht, wütend zu sein.« Er nickte noch einmal und war im nächsten Moment durch das weit offenstehende schmiedeeiserne Tor verschwunden. Nur Augenblicke später sprang ein Automotor an und ein schwarzer SUV fuhr in Richtung Rheinbach davon.
Für mehrere Atemzüge wusste Janna nicht, wie sie reagieren sollte.
»Nehmen Sie diesen Umschlag. Bringen Sie ihn nach Bonn zu Axel Wolhagen. Die Adresse finden Sie im Telefonbuch. Händigen Sie nur ihm – niemand anderem – den Umschlag aus. Geben Sie ihn unter keinen Umständen jemand anderem als Axel Wolhagen. Lassen Sie sich seinen Ausweis zeigen. Und kein Wort darüber – zu niemandem!«
Für einen Moment fühlte sie sich zurückversetzt zu jenem Julimorgen vor einem Jahr, als sie Markus zum ersten Mal begegnet war – auf dem Flughafen Köln-Bonn. Was war nur mit diesem Institut los, dass man ihr in schöner Regelmäßigkeit gut aussehende, aber geheimnisvolle Männer auf den Hals schickte, die ihr mit mysteriösen Aufträgen den Boden unter den Füßen wegzogen?
Ehe sie den Gedanken weiterdenken konnte, gab ihr Smartphone, das in der Küche am Ladekabel hing, einen Signalton von sich. Janna konnte nicht verhindern, dass sich ihr Herzschlag beschleunigte. Rasch schob sie das Foto in die Gesäßtasche ihrer Jeans und schloss die Haustür.
Ihr Handy zeigte in dem versteckten Account, den die Techniker des Instituts ihr vor drei Monaten eingerichtet hatten, eine neu eingegangene E-Mail an. Nach dem Öffnen war nur ein Foto zu sehen. Es zeigte den Eingang zum Rheinbacher Freizeitpark, der weitläufigen Parkanlage, mit Liegewiesen, Teichen, Spielplätzen und einem künstlichen Bachlauf, in dem sie selbst als kleines Kind schon geplanscht und zu dem sie auch Susanna und Till gerne mitgenommen hatte, als sie noch kleiner gewesen waren. Inzwischen mochten die beiden lieber den Rodelberg, die langen Rutschen und den Minigolfplatz.
Am unteren rechten Rand des Bildes entdeckte Janna eine Uhrzeit: 11:45 Uhr. Ihr Handy zeigte 11:25 Uhr an. In ihrer Magengrube machte sich ein flaues Gefühl breit. Sollte sie wirklich in zwanzig Minuten vor dem