»Was? Ihr habt also gestern bei Lichte gearbeitet, als ich im Klub war? Nicht wahr?« sagte Mr. Omer und kniff das eine Auge zu.
»Ja«, sagte Joram. »Da Sie sagten, wir könnten eine kleine Landpartie damit verknüpfen und zusammen hinüberfahren, wenn wir fertig würden, Mimi und ich – und Sie –«
»O, und ich dachte, Ihr wolltet mich ganz weglassen«, sagte Mr. Omer und lachte, bis er husten mußte und beinahe erstickte. »Und da Sie so gut waren, das zu sagen,« fuhr der junge Mann fort, »so habe ich mich recht ordentlich darüber hergemacht, sehen Sie. Wollen Sie sich's einmal ansehen, ob es gut ist?«
»Ja«, sagte Mr. Omer und stand auf. »Junger Herr,« sagte er und blieb vor mir stehen, »wollen Sie vielleicht Ihrer –«
»Nein, Vater«, unterbrach ihn Mimi.
»Ich dachte, es wäre ihm vielleicht angenehm«, sagte Mr. Omer. »Aber vielleicht hast du recht.«
Ich weiß nicht, wieso ich es erriet, daß er sich meiner guten Mutter Sarg besehen wollte. Ich hatte noch nie einen zimmern hören, ich hatte meiner Erinnerung nach überhaupt noch nie einen Sarg gesehen, aber es wurde mir allmählich klar, was das Hämmern bedeutete, während ich es hörte, und als der junge Mann eintrat, wußte ich ganz bestimmt, womit er sich beschäftigt hatte.
Da die Arbeit jetzt fertig war, klopften die beiden Mädchen, deren Namen ich nicht kannte, die Schnitzel und Fäden von ihren Kleidern und gingen in den Laden hinaus, um dort aufzuräumen und auf Kunden zu warten. Mimi blieb zurück, um die fertiggewordene Arbeit zusammenzulegen und in zwei Körbe zu packen. Das tat sie auf ihren Knien und summte dabei ein munteres Lied. Joram, in dem ich sogleich ihren Schatz erkannte, kam herein und raubte ihr einen Kuß, während sie sich so beschäftigte (er schien sich gar nicht um mich zu bekümmern) und sagte, ihr Vater sei nach dem Wagen gegangen und er müsse sich beeilen und sich reisefertig machen. Dann ging er wieder fort. Mimi steckte Fingerhut und Schere in die Tasche und eine Nähnadel mit schwarzem Faden vorsorglich vorn an ihr Kleid, ordnete ihren Umhang zierlich vor dem kleinen Spiegel hinter der Tür, in dem ich das mit ihrer eignen Erscheinung zufriedene Gesicht sehen konnte.
Alles dies beobachtete ich, während ich an dem Tisch in der Ecke saß, den Kopf in die Hand stützte und meine Gedanken mit ganz andern Dingen beschäftigt waren. Der Wagen fuhr bald danach vor dem Laden vor, und nachdem man zuerst die Körbe und dann mich hineingehoben, stiegen die drei andern ein. Ich erinnere mich noch, es war halb ein Korbwagen und halb ein Möbelwagen, dunkel angestrichen und gezogen von einem Rappen mit langem Schweif. Drinnen war genügend Platz für uns alle.
Ich glaube, ich habe niemals ein so seltsames Gefühl gehabt (jetzt bin ich vielleicht weiser), als auf dieser Fahrt, wenn ich daran dachte, womit sie sich beschäftigt hatten und wie vergnügt sie jetzt waren. Ich zürnte ihnen nicht; ich fürchtete mich vielmehr vor ihnen, als ob ich unter Geschöpfe gekommen wäre, die keine Gemeinschaft mit mir hätten. Sie waren alle sehr heiter. Der Alte saß auf der vordern Bank und kutschierte, die beiden jungen Leutchen saßen hinter ihm, und wenn er sprach, beugten sie sich vor, der eine auf der einen Seite des Vollmondgesichts und die andere auf der andern, und machten sich viel mit ihm zu schaffen. Sie wollten auch mit mir sprechen, aber ich zog mich scheu in eine Ecke zurück, entsetzt über ihr Liebeln und ihre Heiterkeit, obgleich sie nicht lärmend waren, und wunderte mich fast, daß vom Himmel keine Strafe für ihre Hartherzigkeit herunterkam.
Als sie anhielten, um das Pferd zu füttern, und aßen und tranken und sich's wohl sein ließen, konnte ich nichts anrühren und blieb nüchtern. Als wir unser Haus erreichten, schlüpfte ich so rasch wie möglich hinten aus dem Wagen, damit ich nicht in ihrer Gesellschaft vor diese feierlichen Fenster trete, die mich mit ihren zugemachten Laden ansahen, wie geschlossene Augen, die einst glänzten. Und ach, wie wenig hatte ich Ursache zu besorgen, daß ich zuletzt keine Tränen mehr haben würde, wenn ich nach Hause käme –: als ich jetzt die Fenster von meiner Mutter Stube erblickte und neben ihnen das Zimmer, das in besseren Zeiten das meinige war!
Peggotty schloß mich in ihre Arme, bevor ich noch die Tür erreichte, und führte mich in das Haus. Ihr Schmerz brach von neuem hervor, als sie mich erblickte, aber sie bewältigte ihn bald und sprach so flüsternd, und ging so sacht auf den Zehen, als ob die Toten aus ihrer tiefen Ruhe gestört werden könnten. Sie war, wie ich später erfuhr, seit langer Zeit in kein Bett gekommen. Sie war immer aufgeblieben und wachte noch jetzt jede Nacht. Solange ihr armer lieber, hübscher Engel über der Erde sei, sagte sie, werde sie ihn nicht verlassen.
Mr. Murdstone nahm keine Notiz von mir, als ich in die Wohnstube trat, sondern saß ruhig in seinem Lehnstuhle neben dem Kamine und weinte still vor sich hin. Miß Murdstone, die eifrig an dem mit Briefen und Papieren bedeckten Tische schrieb, gab mir ihre kalten Fingerspitzen und fragte mich mit teilnahmslosem Flüstern, ob mir die Trauerkleidung angemessen sei?
Ich sagte: »Ja.«
»Und deine Hemden,« sagte Miß Murdstone, »hast du sie mitgebracht?«
»Ja, Madame. Ich habe alle meine Kleider mitgebracht.«
Das war der ganze Trost, den mir ihre Charakterfestigkeit spendete. Ich glaube, daß sie ein auserlesenes Vergnügen daran fand, ihre sogenannte Selbstbeherrschung, ihre Festigkeit, ihren gesunden Menschenverstand und das ganze diabolische Verzeichnis ihrer unliebenswürdigen Eigenschaften bei solchen Gelegenheiten an den Tag zu legen. Sie war besonders stolz auf ihre Geschäftsgewandtheit, und diese zeigte sich jetzt, indem sie alles zu Papier brachte und sich von nichts rühren ließ. Diesen Tag und den nächsten, vom Morgen bis zum Abend, saß sie an diesem Schreibtische, kritzelte hörbar und ruhig gefaßt mit einer harten Feder, sprach zu jedem mit demselben teilnahmslosen Geflüster und kein Muskel ihres Gesichts erschlaffte, kein Ton ihrer Stimme milderte sich einen Augenblick, und kein Fältchen ihrer Kleidung verschob sich je im geringsten.
Ihr Bruder nahm manchmal ein Buch, las aber nie darin, soviel ich bemerkte. Er öffnete es und sah hinein, als ob er lese, aber eine ganze Stunde wendete er kein Blatt um, legte es dann wieder hin und ging im Zimmer auf und ab. Ich saß meistens mit gefalteten Händen da, beobachtete ihn stundenlang und zählte seine Schritte. Er sprach selten mit seiner Schwester und mit mir nie. Er schien außer den Uhren das einzige ruhelose Wesen in dem ganzen totenstillen Hause zu sein.
In diesen Tagen vor dem Begräbnis kam mir Peggotty nur wenig zu Gesicht, ausgenommen wenn ich die Treppe hinauf oder hinab ging, und ich sie immer in unmittelbarer Nähe des Zimmers fand, wo meine Mutter und ihr Kind lagen, und jeden Abend kam sie an mein Bett und blieb bei mir, bis ich einschlief. Ein oder zwei Tage vor dem Leichenbegängnis nahm sie mich mit in das Zimmer: ich vermute, daß es um diese Zeit war, denn meine Erinnerungen an diese schwere Zeit, deren Wandel durch nichts bezeichnet wurde, sind etwas verworren. Ich erinnere mich nur noch, daß unter einem weißen Laken auf dem Bette, das wunderschön rein und frisch war, die Verkörperung der feierlichen Stille, die im Hause herrschte, zu liegen schien, und daß ich, als sie die Decke sanft wegnehmen wollte, ausrief: »O nein, o nein!« und ihre Hand aufhielt.
Wenn das Leichenbegängnis erst gestern gewesen wäre, so könnte ich mich seiner nicht klarer erinnern. Das Aussehen der Putzstube, als ich hereintrat, die eigentümliche Luft, der helle Schein des Feuers, der glänzende Wein in den Karaffen, die Formen der vielen Gläser und Teller, der schwache süße Duft des Kuchens, der Geruch von Miß Murdstones Anzug und von unsern Trauerkleidern – alles steht deutlich vor mir. Mr. Chillip ist im Zimmer und kommt auf mich zu.
»Und wie befindet sich Master David?« fragte er freundlich.
Ich konnte nicht sagen: »Gut.« Ich gab ihm daher nur meine Hand, die er behielt.
»Gott! Gott!« sagte Mr. Chillip und lächelte wehmütig, während etwas in seinen Augen glänzte, »Unsere kleinen Freunde wachsen um uns in die Höhe. Wir verlieren sie fast aus den Augen, Madame.«
Das