Wenn ich einsam auf den schmutzigen winterlichen Wegen spazieren ging, schleppte ich immer mit mir das Wohnzimmer herum, eine fürchterliche Last, ein Alpdrücken bei Tage, aus dem es kein Erwachen gab, ein Druck, der auf meinen geistigen Kräften lastete und sie abstumpfte.
Und wie vielmal saß ich am Speisetisch schweigend und verlegen, und fühlte immer, daß ein Messer und eine Gabel zuviel da waren, und zwar meine, ein Appetit zuviel, und zwar meiner, ein Teller und ein Stuhl zuviel, und zwar meiner, eine Person zuviel, und zwar ich!
Welche öden Abende, wenn die Lichter kamen und ich mich beschäftigen sollte, aber da ich ein unterhaltendes Buch nicht zu lesen wagte, eine unverdauliche Abhandlung über Arithmetik hernahm, wenn sich die Maß- und Gewichtstabellen Melodien anpaßten, wie »Heil dir im Siegerkranz« oder »Weg mit den Grillen und Sorgen«, und sich durch ein Ohr in meinen unglücklichen Kopf hineinbohrten und zum andern wieder hinausgingen!
Was habe ich da zusammengegähnt und wie oft bin ich eingenickt, so sehr ich mich auch zusammennahm; wie oft fuhr ich aus meinem Schlafe empor, bemüht, ihn zu bemänteln! Nie habe ich eine Antwort erhalten, wenn ich einmal ein paar Worte wagte, was selten genug geschah; jedermann ignorierte mich, als ob ich nicht dagewesen wäre und doch war ich jedermann im Wege, und es war ein trübseliger Trost, Miß Murdstones Stimme den ersten Glockenschlag von neun Uhr abends verkünden zu hören und zu Bett geschickt zu werden!
So schleppten sich die Ferien hin bis zu dem Morgen, wo Miß Murdstone sagte: Das wäre also der letzte Tag! und mir für die Ferien die letzte Tasse Tee gab.
Der Abschied machte mir keine Schmerzen. Ich war in ein dumpfes Hinbrüten versunken; aber ich erholte mich ein wenig und freute mich auf das Wiedersehen mit Steerforth, obgleich Mr. Creakle hinter ihm dräute. Wieder erschien Mr. Barkis an der Gartentür, und wieder sprach Miß Murdstone warnend: »Klara!« als meine Mutter sich über mich beugte, um nur Lebewohl zu sagen.
Ich küßte sie und meinen kleinen Bruder, und war jetzt wirklich schmerzlich bewegt, aber nicht wegen des Fortgehens, denn die Kluft zwischen uns und die Trennung war jeden Tag vorhanden gewesen. Und weniger ihr Kuß und ihre Umarmung, so inbrünstig beides war, lebt noch so unverlöschlich in meiner Erinnerung, als das was der Umarmung folgte.
Ich saß schon im Wagen, als sie mich noch einmal rief. Ich sah hinaus und sie stand in der Gartentür allein und hielt den Säugling empor, um ihn mir zu zeigen. Die Luft war kalt aber still, und kein Haar auf ihrem Haupte, keine Falte ihres Anzugs regte sich, als sie unverwandt zu mir hinsah und das Kind emporhielt.
So verlor ich sie. So sah ich sie später in meinen Träumen in der Schule – eine stumme, neben meinem Bett stehende Gestalt, die mich mit demselben unverwandten Blick ansah und den Säugling emporhielt.
Neuntes Kapitel. Ich feiere einen denkwürdigen Geburtstag.
Ich übergehe alles, was in der Schule vorging, bis zu meinem Geburtstage im März.
Ich erinnere mich auch an nichts mehr aus dieser Periode, außer daß Steerforth bewundernswürdiger war als je. Er sollte Ende dieses Semesters, wenn nicht noch eher, abgehen, und kam mir lebhafter und unabhängiger und daher noch bezaubernder als früher vor; aber sonst weiß ich weiter nichts. Das große Ereignis, das diese Zeit in meiner Seele auszeichnet, scheint alle kleinen Erinnerungen verdrängt und getilgt zu haben und allein übrig geblieben zu sein.
Ich kann sogar kaum glauben, daß zwischen meiner Rückkehr nach Salemhaus und meinem Geburtstage eine Zeit von zwei Monaten liegt. Ich begreife nur, daß es so gewesen ist, weil es notwendigerweise so gewesen sein muß, denn ich würde meinen, es sei keine Zeit dazwischen verstrichen, und ein Ereignis wäre dem andern unmittelbar gefolgt.
Wie klar ich mich noch an den Tag erinnern kann. Ich rieche noch den Nebel, der durch das ganze Haus zu spüren war, sehe durch ihn den gespenstisch bleichen Rauhreif, fühle, wie mir mein lockiges Haar klamm um das Gesicht hängt, sehe das lange Schulzimmer, in dem einzelne verstreute tropfende Lichter den nebligen Morgen erhellen sollen, sehe, wie der Atem der Jungen sichtbar in der bitteren Kälte aufsteigt, während sie sich in die Finger blasen und mit den Füßen an der Erde scharren.
Es war nach dem Frühstück, und wir waren eben von dem Spielplatz hereingerufen worden, als Mr. Sharp eintrat und sagte:
»David Copperfield soll ins Sprechzimmer zum Direktor kommen!«
Ich erwartete ein Geburtstagsgeschenk von Peggotty und mein Gesicht heiterte sich auf. Ein paar Knaben in meiner Nähe riefen mir zu, sie bei der Verteilung der guten Dinge nicht zu vergessen, als ich mit großer Schnelligkeit aufstand.
»Beeile dich nicht, David«, sagte Mr. Sharp. »Du hast Zeit genug, mein Sohn, beeile dich nicht.«
Der teilnahmsvolle Ton, mit dem er dies sprach, hätte mich überraschen sollen, aber er fiel mir weiter nicht auf. Ich eilte nach dem Sprechzimmer, wo Mr. Creakle beim Frühstück saß, das Rohrstöckchen und eine Zeitung vor sich, und Mrs. Creakle einen offenen Brief in der Hand hielt. Aber ein Geburtstagskorb war nicht da.
»David Copperfield«, sagte Mrs. Creakle und führte mich nach dem Sofa, wo sie sich neben mich setzte. »Ich habe etwas Besonderes mit dir zu reden. Ich habe dir etwas mitzuteilen, mein Kind!«
Mr. Creakle, den ich natürlich ansah, schüttelte den Kopf, ohne mich anzusehen, und unterdrückte einen Seufzer mit einem sehr großen Stück fetten Butterbrotes.
»Du bist noch zu jung, um zu wissen, wie sich die Welt jeden Tag ändert«, sagte Mrs. Creakle, »und wie die Menschen vergehen und schwinden. Aber wir alle müssen es lernen, David: manche in ihrer Jugend, manche in ihrem Alter, manche zu jeder Zeit ihres Lebens.«
Ich sah sie mit ängstlichem Ernste an.
»Als du nach den Ferien von Hause weg reistest,« sagte Mrs. Creakle nach einer Pause, »befanden sich da alle wohl?« Nach einer andern Pause: »War deine Mama wohl?«
Ich zitterte, ohne recht zu wissen, warum, und sah sie immer noch mit erschrecktem Ernste an, versuchte aber nicht, ihr zu antworten.
»Weil ich dir zu meinem großen Leidwesen sagen muß,« fuhr sie fort, »daß deine Mutter, wie ich diesen Morgen höre, sehr krank ist.«
Ein Nebel erhob sich zwischen Mrs. Creakle und mir, und sie schien sich darin einen Augenblick lang zitternd zu bewegen. Dann stürzten mir die brennenden Tränen aus den Augen und ich sah sie wieder deutlich vor mir sitzen.
»Sie ist sehr gefährlich krank«, fügte sie hinzu.
Ich wußte jetzt alles.
»Sie ist tot!«
Sie brauchte es mir nicht zu sagen. Ich hatte schon einen verzweifelten Schmerzensschrei ausgestoßen und fühlte mich als Waise allein in der weiten Welt.
Sie war sehr gütig gegen mich, behielt mich den ganzen Tag bei sich im Zimmer und ließ mich manchmal allein. Ich weinte, bis ich vor Erschöpfung einschlief und erwachte und wieder weinte. Als ich nicht mehr weinen konnte, fing ich an nachzudenken, und dann war die Beklemmung meines Gemütes am schwersten und mein Gram ein dumpfer Schmerz, für den es keine Linderung gab. Und doch schweiften meine Gedanken umher und sammelten sich nicht auf das Unglück, das mich niederdrückte. Ich dachte wie still jetzt unser Haus mit dem verschlossenen Laden wäre. Ich dachte an den Säugling, der, wie Mrs. Creakle sagte, seit einiger Zeit kränkelte und wohl auch sterben würde. Ich dachte an meines Vaters Grab auf dem Friedhofe neben unserem Hause, und wie meine Mutter jetzt auch unter dem so wohlbekannten Baume ruhte. Ich stellte mich auf den Stuhl, als ich allein war, und blickte in den Spiegel, um zu sehen, wie rot meine Augen und wie